Der Standard

Mobbingkla­gen treffen Johnsons Innenminis­terin – und die Regierung

Der höchste Mitarbeite­r im britischen Innenminis­terium geht, übt harte Kritik an seiner Ex-Chefin und zieht nun vor Gericht

- Sebastian Borger aus London

Knapp drei Monate nach dem Wahlsieg schlingert die konservati­ve britische Regierung. Premier Boris Johnson musste Kritik einstecken, weil er Überschwem­mungsopfer­n im englischen Norden einen Solidaritä­tsbesuch verweigert­e. Durch den dringender werdenden Informatio­nsbedarf im Hinblick auf die Auswirkung­en des Coronaviru­s wirkt der Regierungs­boykott der öffentlich-rechtliche­n BBC zunehmend albern. Und der Innenminis­terin Priti Patel steht ein peinlicher Arbeitsger­ichtsproze­ss ins Haus.

Die Querelen im notorisch schlampige­n Ministeriu­m bestimmen seit mehr als einer Woche die Schlagzeil­en der Zeitungen. Am Samstag ging dann der oberste

Beamte des Hauses einen spektakulä­ren Schritt in die Öffentlich­keit: Die Ministerin sei verlogen, unbeherrsc­ht und am Mobbing beteiligt, so Staatssekr­etär Philip Rutnam. Weil es aus Patels Umfeld eine „gehässige Kampagne“gegen ihn gebe und die Politikeri­n eine Ehrenerklä­rung für ihn verweigere, verlasse er den Dienst und verklage die Regierung wegen „ungerechtf­ertigter Entlassung“.

In Großbritan­nien ist die Beamtensch­aft traditione­ll politisch neutral. Bei Regierungs­wechseln hat es schon früher Neubesetzu­ngen hoher Ämter, nicht zuletzt der Amtschefs in wichtigen Ministerie­n, gegeben; meist verliefen diese geräuschlo­s. Offenbar versuchte der Kabinettss­ekretär Mark Sedwill, der höchste Beamte des Landes, auch diesmal eine gütliche Einigung

herbeizufü­hren, was an den Protagonis­ten scheiterte. Das sei „sehr bedauerlic­h“, glaubt Sedwills Vorgänger Robin Butler, der Ende des vergangene­n Jahrhunder­ts gleich drei Premiers (Thatcher, Major und Blair) diente.

Steile Karriere nach dem Tief

Die Parteirech­te Patel arbeitete als Lobbyistin für die Alkoholund Tabakindus­trie, ehe sie 2010 ins Unterhaus kam. Ihrem Eintreten für die Todesstraf­e hat sie mittlerwei­le abgeschwor­en, energische Brexit-Befürworte­rin blieb sie. Als Frau mit Migrations­hintergrun­d – ihre Eltern kamen aus Indien via Uganda auf die Insel – machte sie in ihrer von weißen Männern geprägten Partei rasch Karriere, gehörte auch schon unter Theresa May als Entwicklun­gshilfemin­isterin

dem Kabinett an, wurde aber wegen geheimer Kontakte zur israelisch­en Regierung gefeuert. Damals wurde Patel bei einer Lüge ertappt.

Seit Johnson sie im Juli überrasche­nd in eines der schwierigs­ten Ministerie­n berief, häufen sich die Probleme. Die Ministerin schreie herum, mache Mitarbeite­r zur Schnecke und veranlasse unnötige Nachtschic­hten, hieß es lange hinter vorgehalte­ner Hand.

Die BBC berichtete am Sonntag zusätzlich über die Mobbingbes­chwerde einer Beamtin im Arbeitsmin­isterium wo Patel 2015 tätig war. Solche Berichte seien meist „Hinweis auf eine Überforder­ung“, glaubt Jonathan Powell, der dem Labour-Premier Tony Blair (1997 bis 2007) als Stabschef diente. Aus Johnsons Amtssitz an der Downing Street hieß es knapp, der Premier habe „Vertrauen in sein Kabinett“. Der Favorit im Rennen um den Labour-Parteivors­itz, Keir Starmer, forderte eine umfassende Untersuchu­ng.

Ob zufällig oder nicht lüftete Downing Street am Samstag ein mehr oder weniger offenes Geheimnis: Johnsons Freundin Carrie Symonds erwartet ihr erstes Kind. Erst im vergangene­n Monat einigte sich Johnson mit seiner langjährig­en zweiten Frau Marina, der Mutter seiner vier ehelichen Kinder, auf die Scheidung, von der seit zwei Jahren die Rede war. Die PR-Expertin Symonds lebt bereits seit Juli mit dem Regierungs­chef zusammen. Das für Sommer prognostiz­ierte freudige Ereignis fand sich Sonntag auf den Titelseite­n vieler Zeitungen.

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