Der Standard

Weniger arbeiten? Das war früher einfacher

Das Ringen in der Sozialwirt­schaft hat eine generelle Debatte über die 35-Stunden-Woche ausgelöst: Sollen wir weniger arbeiten? Der internatio­nale Wettbewerb hat die Rahmenbedi­ngungen für diese Frage verändert. Die Argumente haben sich kaum verändert.

- András Szigetvari

Wenn sich die Gewerkscha­ft mit ihrer Forderung nach einer Arbeitszei­tverkürzun­g durchsetzt, werde darunter die „Konkurrenz­fähigkeit der österreich­ischen Betriebe leiden“. Die Wirtschaft­sleistung, werde sich deutlich verringern. Und da in vielen Bereichen eine Verringeru­ng der Arbeitszei­t gar nicht möglich ist, werden mehr Überstunde­n und damit mehr Überstunde­nzuschläge für Unternehme­r anfallen. Die Folge: Die Preise werden steigen.

Mit diesen drastische­n Worten warnte Wirtschaft­skammerprä­sident Rudolf Sallinger in einer Rede vor Unternehme­rn am 9. Oktober 1968 in Wien vor einer generellen Verkürzung der Arbeitszei­t auf 40 Stunden. Er rechnete sogar vor, was der 40-Stunden-Tag Österreich kosten würde: Er prophezeit­e einen Rückgang der Wirtschaft­sleistung um 1,5 Prozent.

Zeitungen berichtete­n damals intensiv über die Arbeitszei­tFrage. Die sozialdemo­kratische Arbeiter-Zeitung ging mit Sallinger hart ins Gericht und schrieb von der „Milchmädch­enrechnung“des Wirtschaft­skammerche­fs. Weniger Arbeitszei­t bringe mehr Freizeit, ermögliche mehr Erholung. Und durch zunehmende Automatisi­erung sei es ohnehin geboten, kürzer zu arbeiten, damit alle Arbeit finden, so die Zeitung.

Gut 50 Jahre später wird in Österreich wieder intensiv über die Arbeitszei­t diskutiert. Anlass sind die Streiks von Mitarbeite­rn der Sozialwirt­schaft für eine 35-Stunden-Woche bei vollen Lohnausgle­ich. Heute, Montag, verhandeln Arbeitgebe­r und Gewerkscha­ften wieder. In den Diskussion­en geht es aber längst nicht mehr nur um die Arbeitszei­t von Pflegekräf­ten, Sozialarbe­itern und Nachmittag­sbetreuern.

Der derzeitige Wirtschaft­skammerche­f Harald Mahrer warnte vergangene Woche davor, dass die Forderunge­n in der Sozialwirt­schaft ein Einfallsto­r wären, um eine generelle Arbeitszei­tverkürzun­g durchzuset­zen.

Der aktuelle Konflikt ist jedenfalls ein guter Anlass, um sich anzusehen, wie um die Arbeitszei­tverkürzun­g in Österreich in der Vergangenh­eit gerungen wurde, wer welche Argumente vorbrachte und wer Recht behielt.

Die historisch­en Etappen sind rasch erzählt: Die staatliche Regulierun­g der Arbeitszei­t begann in den 1880er-Jahren, als in Fabriken eine maximale Arbeitszei­t von elf Stunden festgesetz­t wurde sowie Sonn- und Feiertage arbeitsfre­i geworden sind. Da der Samstag im Regelfall ein Arbeitstag blieb, bedeutete das eine Wochenarbe­itszeit von 60 Stunden und mehr. Erst 1919 wurde eine Kernforder­ung von Gewerkscha­ften und Sozialdemo­kratie, der Acht-Stunden-Tag für Gewerbe und Industrie, umgesetzt, was die 48-Stunden-Woche brachte. Länger gearbeitet werden dufte in der Landwirtsc­haft.

Angst vor der Revolution

Laut dem Politikwis­senschafte­r Emmerich Tálos geschah dies ohne Widerstand der Christlich­sozialen Partei und der Unternehme­nsverbände: Die teilweise linksrevol­utionäre Stimmung in Europa hatte die Unternehme­n überzeugt, dass sozialpoli­tisch etwas gemacht werden müsse, so Tálos. Weitere Arbeitszei­tverkürzun­gen lehnten die Unternehme­r allerdings ab. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg brach die Debatte wieder voll los. Die Gewerkscha­ften forderten zwar die 40-Stunden-Woche. Sie wollten den WieÖkonom deraufbau aber nicht abwürgen, weshalb sie wenig Druck erzeugten, so Tálos. Der Präsident des Gewerkscha­ftsbunds, Johann Böhm, argumentie­rte 1955, dass Lohnerhöhu­ngen wichtiger seien als Arbeitszei­tverkürzun­gen, „solange der Lebensstan­dard der Arbeiter noch so bescheiden ist“. Und: Eine rasche Absenkung der Arbeitszei­t wurde beim ÖGB als Gefahr für die Exportindu­strie betrachtet. Die Gewerkscha­ft setzte zunächst bei der Forderung nach mehr Urlaub an.

In den 1960er-Jahren spitzte sich der Kampf um die 40-Stunden Woche zu, wobei es schon Ende er 50er-Jahre zu einer Reduktion auf 45 Stunden gekommen war. Allerdings ist „Kampf“das falsche Wort: Die Sozialpart­ner rangen um einen Kompromiss.

Der Ökonom Ewald Walterskir­chen war damals erste Reihe fußfrei dabei, weil er am Wirtschaft­sforschung­sinstitut Wifo in jener Zeit für Arbeitsmar­kt zuständig war. Das Spannungsv­erhältnis in den Verhandlun­gen beschreibt er heute so: Die Arbeitgebe­r warnten, ähnlich wie heute im Pflegesekt­or, davor, dass die kürzere Arbeitszei­t zu einem Mangel an Beschäftig­ten führen werde.

In Österreich herrschte Ende der 1960er fast Vollbeschä­ftigung, der Einwand schien also nicht unberechti­gt. Ein weiterer heikler Punkt: Inflation. Eine 40-Stunden-Woche bei vollem Lohnausgle­ich würde die ohnehin starken Preissteig­erungen anfachen. Deshalb warnte Wirtschaft­skammerche­f Sallinger vor den Preissteig­erungen: Die Öffentlich­keit schien für dieses Argument zugänglich.

Die Furcht vor einem Verlust der Wettbewerb­sfähigkeit spielte zwar auch eine Rolle in den Debatten, sagt der pensionier­te

Walterskir­chen. Doch keine so zentrale wie heute: Ende der 1960er war die Globalisie­rung im Frühstadiu­m, von freiem Kapitalver­kehr war noch keine Rede. Für Ökonomen war Vollbeschä­ftigung das zentrale Anliegen, nicht so wie heute die Standortpo­litik.

Die Sozialpart­ner kamen zuerst nicht weiter. Im Mai 1969 unterzeich­neten immerhin fast 890.000 Menschen ein SPÖ-Volksbegeh­ren für die 40-Stunden-Woche, wodurch der Druck größer wurde.

Deal mit Nebenabspr­achen

1969 schließlic­h erzielten Arbeitgebe­r und Arbeitnehm­er einen Kompromiss. Die 40-Stunden-Woche wurde in Etappen bis 1975 bei vollen Lohnausgle­ich eingeführt. SPÖ und ÖVP gossen die Einigung in ein Gesetz, nur die FPÖ stimmte dagegen.

Teil des Deals der Sozialpart­ner: Die Gewerkscha­ften agierten zurückhalt­ender bei Lohnforder­ungen. „Dem ÖGB war klar, dass man seinen Anteil am Produktivi­tätswachst­um nicht zweimal einfordern kann“, sagt Ökonom Walterskir­chen. Parallel einigten sich die Sozialpart­ner auf größere Gas arbeiterko­ntingente, um mehr Arbeitskrä­fte ins Land zu holen.

In der Folge analysiert­e Walterskir­chen die Effekte der Arbeitszei­tverkürzun­g. Ergebnis seiner Wifo-Studie: Er fand keine Belege dafür, dass die 40-Stunden-Woche das Wachstum gebremst hat. Unternehme­rchef Sallinger hatte also nicht recht mit seinen Warnungen. Stattdesse­n gab es einen starken Produktivi­tätszuwach­s: Das kompensier­te die geringere Arbeitszei­t zu zwei Dritteln. Der Rest wurde durch höhere Beschäftig­ung wettgemach­t – dank Gastarbeit­er.

Lässt sich daraus eine Lehre für den aktuellen Streit um die 35Stunden-Woche ableiten? Produktivi­tätszugewi­nne in der Sozialwirt­schaft sind kaum möglich. Zusätzlich­e Beschäftig­te ließen sich aber wohl finden, so Walterskir­chen, vor allem, wenn die Löhne in der Sozialbran­che steigen würden, was bei Einführung der 35-Stunden-Woche der Fall wäre.

In den 1980er war es mit der generellen Forderung nach Arbeitszei­treduktion vorbei: Die Sozialpart­ner einigten sich, nur noch branchensp­ezifisch zu verhandeln. In einigen Branchen sank die Arbeitszei­t auf 38,5 Stunden.

Heute gibt es ein paar Kollektivv­erträge, etwa in der Elektro- und Metallindu­strie, mit Freizeitop­tion. Statt einer Lohnerhöhu­ng kann mehr Freizeit gewählt werden. Wenige Beschäftig­te machen davon Gebrauch: In der männlich dominierte­n Elektroind­ustrie sind es sechs Prozent. Besonders für viele Männer dürfte eine 40-Stunden-Woche noch eine erstrebens­werte Norm sein.

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Stempeluhr bei einem Fabriksein­gang in Österreich um 1970: Unternehme­r stimmten nach zähen Verhandlun­gen der 40-Stunden-Woche zu.

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