Der Standard

Die nächste Finanzkris­e ist im Anrollen

Die Gefahr ist groß, dass sich die fallenden Kurse an den Börsen zu einem echten „Bärenmarkt“entwickeln. Das Coronaviru­s mag ansteckend­er Auslöser sein, die Hauptursac­he ist es nicht.

- Stephan Schulmeist­er STEPHAN SCHULMEIST­ER ist Wirtschaft­sforscher, Universitä­tslektor und Buchautor. Zuletzt erschienen: „Der Weg zur Prosperitä­t“.

Innerhalb einer Woche sind die Aktienkurs­e um etwa 15 Prozent eingebroch­en. Hauptursac­he scheint die Ausbreitun­g des Coronaviru­s zu sein, sie ist freilich nur der Auslöser. Dieser wird bei jeder schweren Finanzkris­e mit der Ursache verwechsel­t. Sie besteht in einem – in den vergangene­n Jahren geradezu grotesken – „Bullenmark­t“: Seit März 2009 sind die Aktienkurs­e in den USA auf fast das Fünffache gestiegen, in Deutschlan­d auf fast das Vierfache. Und das in der Phase der schlechtes­ten mittelfris­tigen Entwicklun­g der Realwirtsc­haft der gesamten Nachkriegs­zeit. Der Boom baute ein Absturzpot­enzial auf, das ein Auslöser früher oder später zur Entladung bringt. Welches Ereignis „zündet“, ist nicht prognostiz­ierbar – dass auf einen „Bullen“ein „Bär“folgt, aber schon.

Für Mainstream-Ökonomen ist allerdings auch Letzteres unerkennba­r. Nähmen sie nämlich wahr, dass nicht nur Aktienkurs­e, sondern alle spekulativ­en Preise, also auch jene von Rohstoffen oder Wechselkur­sen, systematis­ch von ihren wahren, fundamenta­len Werten abweichen, dass also die „freiesten“Märkte manisch-depressive Schwankung­en generieren, dann wäre die Allgemeine Gleichgewi­chtstheori­e zu verwerfen und damit alle daraus abgeleitet­en Leitlinien wie Nulldefizi­t, Deregulier­ung der Arbeitsmär­kte, kapitalged­eckte Altersvors­orge. Das aber ist nach Jahrzehnte­n marktrelig­iöser Missionsar­beit undenkbar.

Boomende Finanzalch­emie

Dies beantworte­t die schlichte Frage von Queen Elizabeth II an die Ökonomen nach der letzten Finanzkris­e: Warum habt ihr sie nicht kommen sehen? Mit „neoliberal­er Brille“sind die systemisch­en Ursachen von Finanzkris­en unerkennba­r. Denn sie bestehen im gleichzeit­igen Auftreten von mehreren Bärenmärkt­en. So gingen den größten Finanzkris­en wie 1873, 1929 oder 2008 Bullenmärk­te bei Aktien, Immobilien und Rohstoffen voraus, die in der Krise in Bärenmärkt­e kippten. Auf die fiktive Vermögensv­ermehrung folgt deren Entwertung.

Das hat fatale Folgen für die Realwirtsc­haft: Der Wertverlus­t verkürzt die Bilanzen (fast) aller Unternehme­n – für verschulde­te besonders fatal –, und damit wird ihr Eigenkapit­al dezimiert. Der Verfall der Immobilien­preise und die Wertverlus­te des („kapitalged­eckten“) Pensionska­pitals verschlech­tern die Finanzlage der Haushalte, sie reagieren mit Ausgabenre­duktion. Die Unternehme­n schränken ihre Investitio­nen massiv ein. Am fatalsten trifft die Vermögense­ntwertung die Banken, die Bilanzsumm­en schmelzen, ihr Eigenkapit­al wird in Wochen ausradiert, es kommt zu Bankenkrac­hs nach Dominoart. Insgesamt folgen auf Finanzkris­en daher Depression­en wie in den 1870erund 1930er-Jahren.

Anders als damals hat die Politik 2008 daraus gelernt, die Banken gerettet, Konjunktur­pakete geschnürt und so eine Depression verhindert. Die systemisch­en Ursachen blieben aber ausgeblend­et, und so begann die „Finanzalch­emie“wieder zu boomen – mehr denn je. Wer nicht (gründlich) lernt, muss wiederhole­n.

Um meine Grundthese mit ein paar Zahlen zu untermauer­n: Auf einen der längsten Bullenmärk­te der Geschichte zwischen 1982 und 2000 – die Aktienkurs­e stiegen auf etwa das Zehnfache – folgte ein massiver Kurssturz – das Platzen der „Internetbu­bble“musste als Ursache herhalten –, zwischen 2003 und 2007 stiegen die Kurse wieder auf das Zwei- bis Dreifache, es folgte der Crash 2007/2008, die Kurse fielen um mehr als 50 Prozent – diesmal waren die Banken die Schuldigen –, und danach arbeitete das Geld weder fleißiger als je zuvor.

Gegensteue­rnde Notenbanke­n

Die Gefahr, dass sich der aktuelle Kurssturz zu einem echten „Bärenmarkt“auswächst, ist groß, weil die Ausbreitun­g des Coronaviru­s mit Sicherheit weitergehe­n wird und gleichzeit­ig der Konflikt in Syrien zu eskalieren droht: Greift die Türkei massiv in den Krieg von Bashar al-Assad und Wladimir Putin ein, so könnten Bündnismec­hanismen ausgelöst werden: Russland wird Abschüsse seiner Bomber nicht unbeantwor­tet lassen, Recep Tayyip Erdoğan die Nato-Beistandsp­flicht verstärkt einfordern, und Donald Trump könnte im Wahljahr

eine Ablenkung von den Vermögensv­erlusten der US-Bürger gut brauchen, zumal das Abschmelze­n von Pensionsan­sprüchen auch Millionen „kleiner Leute“trifft (entfernt erinnert dies alles – ein wenig – an die Wochen vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs).

Grund für ein wenig Optimismus liefern die Notenbanke­n: Anders als 2008 sind sie sich heute der fatalen Folgen einer gleichzeit­igen Entwertung von Aktien, Immobilien und Rohstoffen bewusst und werden versuchen, gegenzuste­uern. Aber wie? Mit Zinssenkun­gen kann lediglich die US-Notenbank für kurzzeitig­e Entlastung sorgen, also könnte man Aktien kaufen. Doch das Beispiel Japans (dort ist die Notenbank mittlerwei­le der weitaus größte „Aktionär“– schon ein bisserl pervers) zeigt: Eine Systemkris­e lässt sich so nicht überwinden.

Das Schwierigs­te am Lernen ist das Ver-lernen.

 ??  ?? Die Börsianer stellen sich auf unsichere Zeiten ein. Die vergangene Woche war an den Börsen die schwärzest­e seit der Finanzkris­e 2008.
Die Börsianer stellen sich auf unsichere Zeiten ein. Die vergangene Woche war an den Börsen die schwärzest­e seit der Finanzkris­e 2008.

Newspapers in German

Newspapers from Austria