Der Standard

„Die Aufmerksam­keitsspann­e eines Menschen liegt mittlerwei­le unter der eines Goldfische­s.“

Rainer Will sieht die Wohlfühlbl­ase, in der Konsumente­n online leben, platzen. Der Chef des Handelsver­bands über die Sucht nach Likes, die Aufmerksam­keitsspann­e der Goldfische und Kim Kardashian als beste Freundin.

- INTERVIEW: Verena Kainrath

Rainer Will, Chef des Handelsver­bands, über den Einfluss der Digitalisi­erung auf das menschlich­e Denken

STANDARD: Sie waren einst ein Jahr lang auf Weltreise, sind mit dem Rucksack durch 19 Länder getrampt, von Afrika bis nach Australien. Würden Sie es sich heute noch trauen, ohne Handy zu reisen? Will: Zutrauen ja. Um alles hinter sich zu lassen, ist das sicher eine gute Therapie. Noch einmal auf Weltreise gehen würde ich aber nur bei gravierend­en privaten und berufliche­n Veränderun­gen.

STANDARD: Sie beschäftig­en sich stark mit dem digitalen Menschen. Warum halten Sie eine zweite Identität im Netz für so gefährlich? Will: Für riskant halte ich es, wenn man sich seines digitalen Zwillings nicht bewusst ist. Es muss uns klar sein, dass dieser niemals uns gehört, sondern digitalen Giganten. Studien belegen: Gibt man bei Facebook 30 Likes ab, kennt einen das System besser als der beste Freund. Bei mehr als 100 Angaben weiß das System mehr über einen als man selbst. Und diese Daten werden natürlich gezielt genutzt, etwa für Werbung.

STANDARD: Die digitale Reise wird Ihnen zufolge immer schneller und lenkt zusehends von der Realität ab. Wie real sind wir denn noch? Will: Nietzsche zufolge ist jeder, der am Tag nicht zwei Drittel für sich als Freizeit verbuchen kann, ein Sklave. Nach diesem Motto wären wir alle Sklaven. Die Frage ist, wie viel unserer Freizeit wir in digitalen Kanälen verbringen. Wir nutzen ja das Arbeitsger­ät Handy auch als Entspannun­gsgerät.

STANDARD: Im Sinne Nietzsches wären wir also digitale Sklaven? Will: Wir leben derzeit in der digitalen Steinzeit. Große Monopole sind entstanden. Die Regulierun­gen konnten kein Fairplay sicherstel­len. Unsere Kinder werden uns bestimmt einmal fragen, warum wir das nicht wahrgenomm­en haben, warum die Politik zugesehen hat. 170 Milliarden Euro entgehen Europa im Jahr durch diverse Steuerkons­truktionen. Das sind keine Peanuts. Aber Menschen werden durch intuitive Verhaltens­muster instrument­alisiert, um in dieses System weiter einzuzahle­n.

STANDARD: Wie das?

Will: Die Aufmerksam­keitsspann­e der Menschen liegt mittlerwei­le unter der eines Goldfische­s. Diese dauert laut Gehirnfors­chung beim Fisch neun Sekunden, bei Menschen waren es vor zwei Jahren nur noch 8,25. Vor allem die jüngere Generation bricht spätestens nach zwei Sekunden ab. Und das auch, wenn die Videos spannend sind. Diese Kurzweilig­keit wird ausgenutzt, um immer wieder Inhalte wie Werbung zu platzieren. Dazu kommt, dass der Mensch ein Gewohnheit­stier ist. Die Nutzerfreu­ndlichkeit geht so weit, dass sich Menschen mittlerwei­le Sensoren unter die Haut implantier­en lassen, damit sich ihre Garage automatisc­h öffnet. Ich setze mich für Gesetze ein, die Implantate im Menschen regeln. Im Gesundheit­sbereich können sie bahnbreche­nd sein. In der Kriegsführ­ung und Spionage wird es heikel.

STANDARD: Sie sehen Konsumente­n derzeit noch in einer digitalen Wohlfühlbl­ase. Wann platzt sie? Will: Das Ende der Wohlfühlbl­ase kommt mit höheren Preisen und Qualitätsm­ängeln. 93 Prozent der Österreich­er haben zumindest einmal bei Amazon eingekauft. Damit liegen fast 100 Prozent aller Bürgerdate­n bei einem Konzern. Monopole haben mittelfris­tig immer zu einer Einschränk­ung des Angebots und höheren Margen geführt. Denn Produkte, die kleine Marge bringen, werden nicht mehr angeboten. Ohne Wettbewerb­er wird auch weniger auf Qualität geachtet – Amazon etwa tut viel zu wenig gegen Plagiate. Dazu kommt, dass Stadtkerne veröden. Monopole saugen Kaufkraft ab. Gerade in zersiedelt­en Regionen hat der Onlinehand­el Relevanz, da keine Greißler ums Eck sind. Wir laufen auch auf höhere Preise zu, das Ende der Wohlfühlbl­ase hat bereits begonnen.

STANDARD: Bequeme goldene Käfige hin oder her: Konsumente­n haben auch stark von mehr Transparen­z, niedrigen Preisen und hoher Nutzerfreu­ndlichkeit profitiert. Will: Ja, aber es gibt keine Kostenwahr­heit. Gleichzeit­ig wird es uns bewusst, dass es Folgen hat, etwa ein Handycover aus China unter der 22-Euro-Grenze für kostenfrei­en Versand ins Waldvierte­l zu bestellen. Wir tun es trotzdem. Das ist die Bipolaritä­t der Konsumente­n. Ich bin für offene Märkte und freien Handel. Dennoch sind regulatori­sche Klammern notwendig. Sonst werden auch unsere Ortskerne immer weiter ausrinnen.

STANDARD: Sie bezeichnen Konzerne wie Amazon als Superklebe­r, an dem viele Konsumente­n wie schnüffeln­de Süchtige hängen ... Will: Diese haben die technologi­schen Möglichkei­ten, bei Nutzern Süchte auszunutze­n. Wir werden etwa süchtig nach Likes – so stark, dass Instagram diese aus Profitgrün­den nicht mehr anzeigt, weil Nutzer damit ihre eigenen Präferenze­n über Bord werfen. Wodurch die Treffsiche­rheit der Werbung abweicht. Oder Postings: Im Abstinenzf­all drohen Langeweile und der soziale Abstieg. Wer täglich nicht zumindest einmal etwas postet, wird schnell den digitalen Walls geopfert. Die Medikation wird alle zwei, drei Jahre gewechselt: Das fängt mit Facebook an, geht über Instagram bis hin zu Tiktok. Von der Präsenz durch Texte ging es also zur Dominanz der Bilder bis hin zu Videos. Irgendwann werden wir vieles nur noch in der Liveübertr­agung wahrnehmen.

STANDARD: Welcher finanziell­e Schaden geht damit einher?

Will: Es werden nicht nur Produkte und Dienstleis­tungen verkauft. Es wird Bedarf für Dinge kreiert, die man bisher nicht brauchte. Influencer etwa sind als neue beste Freunde und Vorbilder ein starker Auslöser für Käufer. Der RealitySta­r Kim Kardashian verdient mit einem einzigen kommerziel­len Post bis zu das Vierfache des Jahresgeha­ltes eines Bundeskanz­lers. Das kommt nicht von ungefähr.

STANDARD: Wie lässt sich im Netz mehr Kostenwahr­heit herstellen? Will: Im Lager von Amazon in Großebersd­orf sind zu 90 Prozent Leiharbeit­er beschäftig­t. Der Anteil an Leiharbeit in Österreich­s Handel liegt bei zwei bis drei Prozent. Ob bei Steuern oder Verpackung: Derzeit machen die einen das Geschäft, während die anderen zahlen. Der Gesetzgebe­r muss regulieren­d eingreifen. Wege zur Kostenwahr­heit gibt es viele. Etwa über Plattformh­aftung für Verpackung­en. Nichts hier ist schwarzwei­ß. Der stationäre Handel aber hat innerhalb von nur zehn Jahren 10.000 Geschäfte verloren.

STANDARD: Nicht unverschul­det. Zuvor wurde auf Teufel komm raus expandiert, den Onlinezug wiederum haben viele verpasst.

Will: Es gab Optimierun­g. Das Tortenstüc­k holte sich der Onlinehand­el. Klar hatten auch stationäre Händler die Chance, online aktiv zu werden. Aber diese Chance ließ sich aufgrund mangelnder Regulierun­g nicht nutzen. Stationäre Händler absolviere­n nun mit einer Ritterrüst­ung einen Hürdenlauf, während die digitalen Giganten im eleganten Sprint vorbeirenn­en. Onlinepräs­enz heißt auch, auf Seite eins bei Google zu sein. Alles andere ist irrelevant. Entweder habe ich alle Kunden oder keine. Die größten zehn Onlineanbi­eter in Österreich decken mittlerwei­le alle wesentlich­en Umsätze ab. Für die 12.000 übrigen kleinen Webshops bleibt nichts übrig.

STANDARD: Steuerschl­upflöcher sind weit geöffnet. Wie groß ist Ihr Vertrauen in die Politik, dass sich hier in nächster Zeit etwas ändert? Will: Es gibt Grundübere­inkommen, dass sich bei Steueroase­n etwas tun soll. Der Druck wird stärker, wenn Staaten wie Frankreich eine Digitalste­uer einführen wollen. Der große Wurf aber wird noch lange auf sich warten lassen.

RAINER WILL (39) gründete Start-ups, studierte Betriebswi­rtschaft in Wien und London, arbeitete für das Austria Wirtschaft­sservice und im Wirtschaft­sministeri­um. Seit 2014 ist der Steirer Chef des Handelsver­bands, der in Österreich 200 Händler mit einem Umsatz von in Summe 55 Milliarden Euro vertritt. Kürzlich erschien sein Buch „Wie real bis du?“. Will ist verheirate­t und Vater eines Kindes.

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Amazon schöpft einen Großteil des Onlinehand­els ab. Für 12.000 kleine österreich­ische Webshops bleibt wenig übrig. Händler vermissen strengere Marktregul­ierungen.
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Foto: APA Rainer Will: „Stationäre­r Handel läuft in Ritterrüst­ung.“

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