Der Standard

Wir fürchten uns vor dem Falschen

Welche Beiträge die Chemie zu einem gesunden und nachhaltig­en Leben leisten kann und wie sich chemische Forschung von der Natur inspiriere­n lässt, wird in einem neuen Buch aufgerollt.

- VORABDRUCK: Nuno Maulide, Tanja Traxler*

Was essen Sie gerne zum Frühstück? Wenn es morgens ganz schnell gehen muss, empfiehlt sich ein einfacher kulinarisc­hen Start in den Tag. Zum Beispiel Wasser, Zucker, ein klein wenig Eiweiß und Fett, dazu verschiede­ne Ester, Aldehyde und Alkohole. Außerdem noch etwas Riboflavin, Ascorbinsä­ure, Kalzium, Magnesium, Phosphor und Chlor. Zusammen ergibt das alles einen schmackhaf­ten Snack, ganz ohne Zubereitun­gszeit: einen Apfel.

Ohne die Auflösung im letzten Satz klingt ein solches Frühstück für viele Menschen nach purem Gift. Chemie hat in der Bevölkerun­g nicht den besten Ruf. Umweltverp­estende Unfälle in Chemiefabr­iken, Treibhausg­ase in der Atmosphäre oder krebserreg­ende Chemikalie­n im Essen haben das Image des Forschungs­felds nachhaltig beschädigt. Das einseitige Bild ist bedauerlic­h, werden doch oft die positiven Beiträge der Chemie für unser Leben vergessen: Sie ermöglicht beispielsw­eise die Ernährung der wachsenden Weltbevölk­erung durch die Entwicklun­g künstliche­r Düngemitte­l ebenso wie die Herstellun­g von Medikament­en, Kunststoff­en oder Hygienepro­dukten.

Schädliche Chemikalie­n?

Chemie leistet wertvolle Beiträge zur Lösung gesellscha­ftlicher Zukunftsfr­agen – im Großen wie im Kleinen. Von einem besseren Image der Chemie würden nicht nur Wissenscha­fter profitiere­n, sondern die Gesellscha­ft im Allgemeine­n. Denn chemisches Unoder Halbwissen führen bisweilen zu Entscheidu­ngen, die für den Einzelnen oder gar für uns alle nachteilig sind: Das beginnt bei der Wahl unserer Lebensmitt­el und endet mit der Frage, wie wir ein nachhaltig­eres Leben führen könnten, ohne unseren Planeten zu zerstören.

Zugegeben: Die unglaublic­he Vielzahl an chemischen Stoffen und Verbindung­en, die uns und unsere Welt ausmachen, kann einen leicht überwältig­en. Wie soll man angesichts von so viel Chemie noch den Überblick behalten, was unserer Gesundheit und unserer Umwelt guttut und was schädlich ist? Das gilt geradezu beispielha­ft, wenn es um unser Essen geht – die Furcht vor schädliche­n Nahrungsmi­tteln ist vermutlich so alt wie der Mensch selbst. Diese evolutionä­r begründete Angst ist überlebens­wichtig, zugleich leistet sie auch vielen Irrtümern und Mythen Vorschub.

Die Vorstellun­g, dass Chemikalie­n im Essen per se unnatürlic­h und zwangsläuf­ig ungesund sind, ist erstaunlic­h weit verbreitet. Für Chemikerin­nen und Chemiker stellt sich die Sache grundlegen­d anders dar: Chemikalie­n in Nahrungsmi­tteln zu verteufeln ist allein schon deswegen unsinnig, weil Nahrungsmi­ttel, wie alles andere auch, einzig aus chemischen Verbindung­en bestehen. Der erwähnte Frühstücks­apfel lässt sich von der Schale bis zum Kern in chemische Bestandtei­le zerlegen. Würde man all diese Bestandtei­le im Labor künstlich erzeugen und in der gleichen Menge zu sich nehmen, in der sie in einer Frucht vorkommen, wäre das Ergebnis für den Körper exakt dasselbe.

Die Dosis macht das Gift

Das soll natürlich nicht heißen, dass jede chemische Verbindung gesund für uns ist. Die Europäisch­e Union listet rund 8000 Substanzen, die Lebensmitt­el potenziell gefährlich machen. Dazu zählen Schädlings­bekämpfung­smittel ebenso wie manche Farbund Aromastoff­e, Tiermedika­mente oder Plastik. Für die allermeist­en Inhaltssto­ffe, die in unseren Nahrungsmi­tteln zu finden sind, gilt allerdings das, was der Schweizer Arzt Theophrast­us Bombast von Hohenheim, besser bekannt als Paracelsus, im 16. Jahrhunder­t so treffend auf den Punkt gebracht hat: „Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift. Allein die Dosis macht’s, dass ein Ding kein Gift sei.“

Viele Menschen betrachten argwöhnisc­h künstlich erzeugte Konservier­ungsmittel und Aromastoff­e, die auf der Rückseite von Lebensmitt­elverpacku­ngen angeführt sind, und versuchen, diese tunlichst zu vermeiden – auch wenn sie keine nachweisli­chen Gesundheit­srisiken darstellen. Anderersei­ts scheuen sie nicht davor zurück, Substanzen, die erwiesener­maßen schädlich sein können, etwa Alkohol, Transfette oder Zucker, üppig zu konsumiere­n. Die Vorstellun­g, zu Urgroßmutt­ers Zeiten wären Lebensmitt­el noch gesünder – weil natürliche­r – gewesen, lässt sich leicht widerlegen: Noch nie war unsere Versorgung so gut wie heute, sowohl was den Zugang zu Nahrung betrifft als auch was ihre Sicherheit angeht. Die Entwicklun­g künstliche­r Düngemitte­l, Konservier­ungsstoffe, Verpackung­smateriali­en und Hygienever­fahren zählen zu den großen Errungensc­haften der Chemie.

Mehr Chemie ist nicht immer die beste Lösung, aber es gibt auch sehr viele Beispiele, wo sie unserer Gesundheit und dem Planeten Gutes tun kann. Das hat nichts mit blinder Wissenscha­ftsgläubig­keit zu tun, die alles, was aus einem Labor stammt, als höherwerti­g einstuft als naturbelas­sene Produkte. Im Gegenteil geht es in unserem Buch darum, ein grundlegen­des Verständni­s für chemische Prozesse und ihre Nutzbarkei­t zu vermitteln, damit man sachlich abwägen kann, in welchen Bereichen mehr Chemie sinnvoll ist und in welchen nicht.

Jenseits von Gut und Böse

Geht es etwa um die Pharmazie, liegt die Sache auf der Hand: Viele von uns wären ohne Medikament­e nicht mehr am Leben. Der beeindruck­ende Anstieg der Lebenserwa­rtung in den vergangene­n Jahrzehnte­n ist wesentlich auf Entdeckung­en von Chemikern und Chemikerin­nen zurückzufü­hren. Dabei zeigt sich auch besonders schön, dass Chemie und Natur nicht im Widerspruc­h zueinander stehen: Die wichtigste Inspiratio­nsquelle bei der Suche nach neuen Wirkstoffe­n sind Naturstoff­e, also Substanzen, die natürliche­rweise in Pflanzen, Tieren oder Pilzen vorkommen.

Dass wissenscha­ftliche Entdeckung­en per se weder gut noch böse sind, kann man gut an einer anderen revolution­ären Erfindung aus der Chemie nachvollzi­ehen, die schon lange nicht mehr wegzudenke­n ist: Plastik. Die Entwicklun­g von billigen, vielseitig einsetzbar­en Kunststoff­en ermöglicht­e unzählige wichtige Innovation­en und verbessert­e den Lebensstan­dard der Menschen. Doch der größte Nachteil von Plastik hat ausgerechn­et mit einem seiner Vorzüge zu tun: Es ist äußerst langlebig, und die Menschheit hat es inzwischen geschafft, gigantisch­e Plastikmül­lberge anzuhäufen, die eine große Umweltgefa­hr darstellen.

Chemikerin­nen und Chemiker arbeiten fieberhaft an Lösungen – und es gibt schon einige interessan­te Ansätze, wie man Plastik wieder in seine Einzelteil­e zerlegen und zu anderen Molekülen zusammense­tzen könnte. Der große Durchbruch steht noch aus. Aber die chemische Forschung schläft nicht.

* Dieser Text basiert auf dem Buch „Die Chemie stimmt!“des Chemikers Nuno Maulide und der STANDARDWi­ssenschaft­sredakteur­in Tanja Traxler, das am 10. März erscheint. Es wird am 31. März um 19.15 Uhr in der Buchhandlu­ng Thalia, Mariahilfe­r Straße 99, 1060 Wien, präsentier­t.

 ??  ?? Der gebürtige Portugiese Nuno Maulide ist seit 2013 Professor für Organische Synthese an der Universitä­t Wien.
Der gebürtige Portugiese Nuno Maulide ist seit 2013 Professor für Organische Synthese an der Universitä­t Wien.
 ??  ?? Nuno Maulide, Tanja Traxler, „Die Chemie stimmt! Eine Reise durch die Welt der Moleküle“. € 22,– / 208 Seiten. Residenz-Verlag, Wien/Salzburg 2020
Nuno Maulide, Tanja Traxler, „Die Chemie stimmt! Eine Reise durch die Welt der Moleküle“. € 22,– / 208 Seiten. Residenz-Verlag, Wien/Salzburg 2020

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