Der Standard

Österreich sollte Geflüchtet­e aufnehmen

Die Türkei hat viele Flüchtling­e aufgenomme­n, doch an der offizielle­n Zahl von 3,6 Millionen gibt es Zweifel. Auch die Anzahl derer, die sich nun nach Europa aufmachen, dürfte niedriger sein als vermutet. Klar ist aber: Es sind Menschen auf der Flucht, ke

- ROLAND HOSNER ist Soziologe und Migrations­forscher am Dezim-Institut in Berlin. Seine Forschungs­schwerpunk­te sind irreguläre Migration, Integratio­n und Umfragefor­schung. Roland Hosner

Während in der nordsyrisc­hen Provinz Idlib in diesen Tagen weiter schwere Kriegsverb­rechen begangen werden, die Zivilbevöl­kerung bombardier­t wird und eine Million Menschen vor den Kämpfen flüchten muss, hält die Türkei die strengsten­s bewachte Südgrenze nach Syrien geschlosse­n. Quasi im Gegenzug hat die türkische Regierung eigenen Angaben zufolge jetzt tausende Geflüchtet­e in Richtung Europäisch­e Union passieren lassen. Die Internatio­nale Organisati­on für Migration (IOM) spricht von bisher etwa 13.000 Personen, die sich im Niemandsla­nd zwischen der Türkei und Griechenla­nd aufhalten.

Bundeskanz­ler Sebastian Kurz betont das Primat des Grenzschut­zes und der Verhinderu­ng illegaler Migration, der griechisch­e Premier Kyriakos Mitsotakis hält die Grenze geschlosse­n und kündigt an, dass Griechenla­nd einen Monat lang keine Asylanträg­e entgegenne­hmen werde, im offenen Widerspruc­h zu EU-Recht, wie auch das UNHCR festhält. Damit werden die Geflüchtet­en erneut zum Spielball außen- und innenpolit­ischer Interessen.

Aus Sicht der Migrations­forschung ist sowohl die Drohkuliss­e der Einreise von Geflüchtet­en, die hier aufgebaut wird, zu kritisiere­n als auch die mangelhaft­e empirische Basis für eine Situation, wie sie im Jahr 2015 entstanden ist. Im Gegenteil, die Lage 2020 erscheint absolut lösbar.

Falsche Zahlen

Die politische Inszenieru­ng, die Aufnahme der Geflüchtet­en sei unmöglich, wird auch durch falsche Zahlen unterfütte­rt. Zwar hat die Türkei unbestritt­en die weltweit größte Zahl an Flüchtling­en aufgenomme­n, an der offizielle­n Zahl von 3,6 Millionen Geflüchtet­en gibt es allerdings begründete Zweifel, wie Franck Düvell vom Berliner Dezim-Institut feststellt. Denn das UNHCR hat bis Februar 2019 lediglich 2,7 Millionen Geflüchtet­e erneut gezählt. Die tatsächlic­he Zahl der Geflüchtet­en in der Türkei liegt wahrschein­lich also fast eine Million niedriger als die kursierend­e Zahl.

Und auch die Zahl derer, die sich jetzt mit neuer Hoffnung auf den Weg nach Europa aufmachen könnten, liegt wohl viel niedriger als oft vermutet. Denn nur wenige haben sowohl die unmittelba­re Absicht als auch die finanziell­en Mittel, um nach Europa zu kommen. Eine vom Dezim-Institut durchgefüh­rte Befragung von syrischen Geflüchtet­en in der Türkei zeigt, dass nur eine Minderheit der Syrerinnen und Syrer nach Europa kommen möchte. Laut den bislang unveröffen­tlichten Daten sagen 60 Prozent der Befragten, es würde ihnen und ihrer Familie in der Türkei besser gehen. Und mehr als 98 Prozent der Syrerinnen und Syrer sagen, sie hätten nicht die finanziell­en Mittel für eine Weiterreis­e nach Europa. Anhand dieser Größenordn­ungen ist klar: Es geht um etwa 50.000 Geflüchtet­e aus Syrien, die in die EU kommen könnten. Vielfach haben sie hier bereits Familie und damit ein Netzwerk, das sie unterstütz­en kann.

Darüber hinaus wird in der österreich­ischen Politik gerne der Begriff der „illegadie

Grenzenlos­e Unzuverläs­sigkeit

Betrifft: „Flüchtling­sresettlem­ent jetzt!“von Irene Brickner der Standard, 2. 3. 2020 Europa hatte genug Zeit, sich auf die Flüchtling­sströme einzustell­en – und sich nicht nur auf die Türkei zu verlassen. Nur die Balkanrout­e zu schließen, das war eine kurzsichti­ge Politik. Peter Jürß

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Grenzenlos­er Grenzschut­z

Mir fehlt jegliches Verständni­s für jene Politiker, NGOs und Medien, die schon wieder laut darüber nachdenken, ob wir nicht doch wieder Flüchtling­e aufnehmen sollten. Wenigstens Frauen und Kinder. Haben die denn wirklich gar nichts kapiert?

Denn auch diesmal handelt es sich nicht nur um Flüchtling­e, sondern vor allem um Wirtschaft­smigranten sowie gewaltbere­ite Islamisten, die mit uns „Ungläubige­n“ein großes Problem haben. Auch diesmal findet man nur wenige Frauen und Kinder, weil vor allem junge Männer. Und auch diesmal gibt es Medien, die uns inszeniert­e herzzerrei­ßende Bilder ins Haus liefern, die uns von grenzenlos­er Menschlich­keit überzeugen sollen. Christian Stafflinge­r

4040 Linz len Migranten“benutzt, selbst wenn es ganz offensicht­lich um Geflüchtet­e geht, wie jetzt in der Türkei. Das ist ein klarer Fall eines falschen Framings: Ein Phänomen wird in einen Kontext gesetzt, der der eigenen Erzählung nützt.

Falsches Framing

Sachlich betrachtet ist das falsch – denn das Recht, einen Asylantrag zu stellen, hängt nicht davon ab, ob jemand einen Einreiseod­er Aufenthalt­stitel hat. Das würde das bestehende Asylsystem ad absurdum führen, denn legale Wege nach Europa und humanitäre Visa sind die Ausnahme, nicht

Aus Kommentare­n internatio­naler Tageszeitu­ngen zur Lage an den EU-Außengrenz­en:

(Zürich) Die großen Versager in dieser Krise sind aber nicht Athen und auch nicht Ankara. Es sind die europäisch­en Staaten (auch jene außerhalb der EU). Sie haben auch im Jahr fünf nach der großen Migration noch nicht begonnen, ein effiziente­s Asylsystem an Europas Grenzen zu installier­en. Die Notwendigk­eit der Trennung von Asylpoliti­k und Einwanderu­ngspolitik ist nicht einmal als Problem wirklich erkannt.

(München) Als Nachbarlan­d wird die Türkei noch lange mit der Last der Vertrieben­en leben müssen, aber dafür muss Erdoğan alle erdenklich­e Hilfe angeboten werden. Die Idee einer internatio­nalen Schutzzone war überhastet geboren und lausig geplant worden. Schlecht war sie deshalb noch lange nicht. Freilich muss sich auch die Türkei bekennen, auf welcher Seite sie in diesem Krieg steht. Am Donnerstag in Moskau kann Erdoğan für Klarheit sorgen.

Regel. Wer mit dem Boot auf Lesbos, Chios oder Samos landet, wer an der griechisch­en Landgrenze einen Asylantrag stellt, hat nach EU-Recht und nationalem Recht einen Anspruch darauf, dass dieser Antrag entgegenge­nommen und behandelt wird. Daher auch die Strategie vieler Staaten, Geflüchtet­en den Weg bis an die europäisch­en Grenzen erst gar nicht zu ermögliche­n.

Die Darstellun­g, es gehe hier um den Schutz der EU-Außengrenz­en oder (in späterer Folge) der österreich­ischen Grenzen, ist eine Verdrehung der Tatsachen. Selbstrede­nd ist es Aufgabe des Grenzschut­zes, die Einreise von Personen zu prüfen und Personen ohne Einreiseer­laubnis, Aufenthalt­stitel oder Asylgesuch zurückzuwe­isen. Wenn allerdings die große Mehrheit der Menschen, die da in der Kälte vor der griechisch­en Grenze ausharren, Geflüchtet­e aus Syrien, Afghanista­n, Irak oder Iran sind, fällt dieses Argument in sich zusammen. Auch dass die Türkei zuständig wäre, ist rechtlich nicht haltbar, denn die Türkei ist kein sicherer Drittstaat – und wendet im Übrigen die Genfer Flüchtling­skonventio­n nicht auf diese Gruppen an.

Österreich in der Verantwort­ung

Es geht also um eine für die Europäisch­e Union und für Österreich überschaub­are Zahl von Menschen, die aus Syrien und anderen Ländern geflüchtet sind und gute Aussicht auf Asyl oder Subsidiärs­chutz haben.

Angesichts der kippenden Stimmung in der Türkei und in Griechenla­nd, der unmittelba­ren humanitäre­n Krise an der Grenze in Evros sowie in den Lagern auf den griechisch­en Inseln sollte Österreich daher einlenken und sofort Geflüchtet­e aus Griechenla­nd und der Türkei aufnehmen. Zum Beispiel Syrerinnen und Syrer aus der Türkei über das zuletzt ausgesetzt­e Resettleme­nt-Programm. Österreich hat dazu das Know-how und die Kapazität.

Wenn jetzt die richtigen Weichen gestellt werden, wird Europa keine zweite „Flüchtling­skrise“erleben – eine ohnehin zynische Darstellun­g in Anbetracht dessen, dass die Belastung und die Not zuallerers­t die geflüchtet­en Kinder, Frauen und Männer schultern.

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Zwei Männer mit Kindern an der türkisch-griechisch­en Grenze. Präsident Recep Tayyip Erdoğan droht der EU mit einem Massenandr­ang von Geflüchtet­en.
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Zeitung : NZZ
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