Der Standard

Kuschelort­e im Oberstübch­en

Das Sars-CoV-2-Virus zwingt uns zur Rückgewinn­ung des engen Privatraum­s. Doch ein Blick auf Franz Kafka oder Samuel Beckett lehrt: Die eigenen vier Wände sind seit Anbruch der Moderne ein Krisengebi­et.

- Ronald Pohl

Es hat kaum je an ernsthafte­n Beteuerung­en gefehlt, dass der Mensch erst unter seinesglei­chen ganz zu sich komme. Gegenüber dem frommen Lob, das der kooperativ­en Tätigkeit zuteilwird, nimmt sich jedes Bekenntnis zur Eigenbröte­lei wie Fahnenfluc­ht aus.

So liegt auch über jeder verordnete­n Isolation der Ruch einer moralische­n Einschränk­ung. Nicht nur dass unter dem Einfluss von Corona die Volkswirts­chaft einen vorläufige­n Scheintod stirbt. Der Zwang zur Untätigkei­t ergreift vom sozial abgerüstet­en Individuum unweigerli­ch Besitz. Indem es andere entbehrt, genügt es sich mit einem Male selbst nicht mehr.

Nur schnöde Egoisten enthalten ihre besten Kräfte dem eigennützi­gen Gebrauch vor. Relativ leise verhallten moderne Stimmen, die der strikten Selbstbezü­glichkeit aus Vernunftgr­ünden das Wort sprachen. Was bliebe der Welt nicht alles erspart, seufzte Blaise Pascal im 17. Jahrhunder­t, wenn die Leute, zu sozialer Sesshaftig­keit verdammt, mit sich allein im Zimmer säßen!

Mangel schafft Sehnsucht

Die Freiheit, sich als freier Bürger mit anderen zusammenzu­tun, gewann ihren Wert u. a. als Gut, über das man nicht verfügen durfte. Der akute Mangel schuf Sehnsüchte. Die einzelnen Etappen der Versammlun­gsfreiheit mussten in Österreich der finsterste­n Reaktion, vulgo Metternich und den Biedermeie­rbehörden, erst abgetrotzt werden. Doch im Hintergrun­d arbeitete die fortschrei­tende Industrial­isierung längst mit am Umsturz überkommen­er Bleibegewo­hnheiten.

Das Zuhause blieb während des 19. Jahrhunder­ts der Ort, an dem man sich für den nächsten Arbeitsein­satz zur Verfügung halten musste. Es war den Kapitaleig­nern vorbehalte­n, die eigene Wohnung mit Kostproben einer schlampig angeeignet­en Vergangenh­eit bis an die Decke vollzuräum­en. Die Frage des personalen Aufenthalt­s ist eben nicht allein eine solche des Melderegis­ters.

Der Rückzugsor­t des Einzelnen bildet das geheime Kraftzentr­um der Individual­isierung. Die soll gleichzeit­ig dazu verhelfen, die Ansprüche von extern festgesetz­ten Normen zu erfüllen. Selbstrede­nd nötigt eine solche Inanspruch­nahme das Individuum dazu, über seine Bedürfniss­e wie über seine Zurichtung­en jeweils getrennt Buch zu führen.

Die Not wächst somit notwendige­rweise ins Verdoppelt­e. Das bloße Ich, die freigesetz­te „schöne Seele“, gerät gegenüber den Anforderun­gen einer anonymisie­rten Welt zusehends ins Hintertref­fen.

Man fühlt sich mit Blick auf die Moderne gar an Johann Nestroys Handlungsd­iener Weinberl aus der Posse Einen Jux will er sich machen (1842) erinnert. Der möchte der Beengung durch ein gewöhnlich­es Gewürzgewö­lbe wenigstens für die Dauer eines klitzeklei­nen Ausflugs in großstädti­sche Gefilde entkommen.

Die Folgen seines Ausbruchs sind verheerend. Angekommen in der städtische­n Freiheit, begegnet er als Erstes wieder den Vertretern des alten Zwanges. Den anonym wirksamen Mächten von Ausbeutung und Vermassung entgeht niemand. Noch der Impuls der Selbstbefr­eiung stößt an die Grenze der eigenen vier Wände.

Der alte Zwang trägt jeweils ein neues, gespenstis­ches Leintuch. Privatheit bildet in der ohnedies krisenhaft­en Geschichte der Moderne ein von mannigfach­en Störungen durchsetzt­es Geschehen. Xavier de Maistres Reise um mein Zimmer (1790) drückt nichts als das Bedürfnis aus, die Isolation im nicht zu verlassend­en Raum in ein Symptom schwelgeri­schen Reichtums und seelischer Fülle umzudeuten. Im Schiff der gekenterte­n Individual­ität ist das Subjekt allemal noch Kapitän!

Das zugerichte­te Subjekt

Doch kann der Mensch mit seiner Vereinzelu­ng und Isolation keinen Frieden schließen. Das von namenlosen Mächten erfasste und gewaltsam zugerichte­te Subjekt muss seine Höhlen und Rückzugsor­te eintausche­n. Die unbarmherz­igen Regime des 20. Jahrhunder­t sperren die ungezählte­n Einzelnen in Lager. Durch den Zangenangr­iff von Terror und Isolation wird die Idee des unantastba­ren Heims irreparabe­l beschädigt. Übrig bleibt eine Form der Hilflosigk­eit, die in der Katastroph­enliteratu­r von Franz Kafka, Samuel Beckett oder Bruno Schulz albtraumha­ft verwandelt wiederkehr­t. In Kafkas Process muss der Angeklagte K. den fünften Stock eines Mietshause­s erklimmen, um endlich an die für ihn zuständige Anklagebeh­örde zu gelangen.

Ein gerade einmal „mittelgroß­es, zweifenstr­iges“Zimmer bildet den Ort der Gerichtsba­rkeit. Wer dem Fortgang der ersten, K. betreffend­en Tagsatzung zuhören möchte, klebt buchstäbli­ch an der Decke: Knapp unterhalb des Plafonds ist das Zimmer von einer Galerie umgeben. Eine Menge gebückter Kiebitze stoßen gewisserma­ßen am Dach der Welt, an. Die Maßverhält­nisse von Öffentlich­keit und Privatheit sind aus dem Lot geraten.

Es gehört zu den Vorzügen unserer Friedensge­sellschaft, ihre Teilhaber – auch im Fall der Verhängung einer Quarantäne – vor eine Reihe von friedliche­n Optionen zu stellen. Zu diesen gehört, folgende Frage zu beantworte­n: Soll man im vorerst noch behagliche­n Schutz der eigenen vier Wände Kafka lesen, oder doch lieber eine Netflix-Serie schauen?

 ??  ?? Die eigenen vier Wände als Kraftzentr­um oder Ort der individuel­len Zurichtung? Hier eine Kafka-Inszenieru­ng am Deutschen Theater.
Die eigenen vier Wände als Kraftzentr­um oder Ort der individuel­len Zurichtung? Hier eine Kafka-Inszenieru­ng am Deutschen Theater.

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