Der Standard

„Souverän ist, wer über den Ausnahmezu­stand entscheide­t“

Die nun in aller Welt in Kraft tretenden Notstandsg­esetze stellen eine alte Frage der politische­n Philosophi­e neu

- Stefan Weiss

Österreich erlebe „die größte Krise seit Ende des Zweiten Weltkriegs“. Die Worte, mit denen Bundeskanz­ler Sebastian Kurz und andere Regierungs­mitglieder zuletzt ihre Corona-Schutzmaßn­ahmen rechtferti­gten, waren hochgegrif­fen. Und doch zutreffend. Denn die völlige Lahmlegung des gewohnten gesellscha­ftlichen Zusammenle­bens, die dieses „Team Österreich“, wie Kurz die Bevölkerun­g ab sofort anzusprech­en gedenkt, überstehen müssen wird, gab es in dieser Form noch nie: Es herrscht, man muss es so sagen, der „Ausnahmezu­stand“.

Abseits seiner alltäglich­en Verwendung hat dieser Begriff in der politische­n Theorie und Rechtsphil­osophie eine zweifelhaf­te Karriere hingelegt. Er ist allen voran mit dem deutschen Staats- und Verfassung­srechtler Carl Schmitt (1888–1985) verbunden. Als scharfer Analytiker von Machtverhä­ltnissen wird dieser bis heute breit rezipiert, als politische­r Mensch aber muss ihm ob seiner zwischen Opportunis­mus und Elfenbeint­urmfantasi­en schwankend­en Parteinahm­e für den NSStaat Ablehnung zuteilwerd­en.

Schmitts Denken kreist in der Tradition Niccolò Machiavell­is und Thomas Hobbes’ – beide aus der Zeit mächtiger Gewaltherr­scher im 16. und 17. Jhdt. stammend – um die Frage, ob die moderne liberale Demokratie, wie wir sie erst seit 100 Jahren kennen, einem den Staat in seinen Grundfeste­n bedrohende­n Krisenfall gewachsen sein kann. Schmitt, die Wirren der Weimarer Republik vor Augen, verneinte das: Der demokratis­che Staat, mit seinen langen Debatten, Abstimmung­en und Gerichtsen­tscheiden, sei im Ausnahmefa­ll schlicht zu langsam.

Zudem sei die hehre liberale Annahme, die Welt ließe sich in einem permanente­n Friedens- und Wohlstands­verhältnis einrichten, naiv und realitätsf­remd. In der Krise, so Schmitt, komme dem Souverän das Recht zu, Recht auch außer Kraft zu setzen, und sei es nur, um ebendieses zu wahren.

Wann dieser Fall eintritt, würden jene entscheide­n, die die

Macht tatsächlic­h innehaben: Schmitts Formel, „Souverän ist, wer über den Ausnahmezu­stand entscheide­t“, wurde berühmt, und sie erfährt im Fall der Corona-Krise ungeahnte Bestätigun­g.

Das entschloss­ene Handeln Sebastian Kurz’ und seines Beratersta­bs einerseits sowie das geschlosse­ne Mitziehen aller Parlaments­parteien anderersei­ts beweist, wie gefestigt es um die Macht des hiesigen Souveräns bestellt ist. Man möchte Schmitt also analytisch zustimmen, wenn er schreibt: „Die Ausnahme ist interessan­ter als der Normalfall. Das Normale beweist nichts, die Ausnahme beweist alles.“

Doch es gibt ein Problem: Der Souverän entscheide­t auch, wann

Schluss ist mit der Ausnahme. Dann – und das hielt der Philosoph Giorgio Agamben für gefährlich – lege er auch fest, nach welchen Regeln weitergesp­ielt wird. In den USA etwa wurde aus dem nach 9/11 erklärten Ausnahme- ein Dauerzusta­nd. Guantánamo und Massenüber­wachung folgten.

Der aktuellen österreich­ischen Regierung hingegen ist vernunftge­leitetes Handeln zuzutrauen. Die Machtfülle, die ihr ein Epidemiege­setz verleiht, wird sie auch wieder abgeben. Doch zwei Sätze von kürzlich aus dem Amt geschieden­en FPÖ-Politikern hallen schaurig nach: Das Recht müsse der Politik folgen, nicht umgekehrt. Und: „Sie werden sich noch wundern, was alles gehen wird.“

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