Der Standard

Die erste große Krise der Globalisie­rung

Die US-amerikanis­che Historiker­in Tara Zahra erforscht, wie es nach dem Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe schon einmal zu einem folgenschw­eren Rückgang des internatio­nalen Austauschs kam.

- Klaus Taschwer

Es war mit weltweit rund 50 Millionen Toten die folgenreic­hste Pandemie des 20. Jahrhunder­ts, sie forderte mehr Tote als der Erste Weltkrieg. Wir können heute nur hoffen, dass die Opferzahle­n der Spanischen Grippe, die von 1918 bis 1920 wütete, durch Covid-19 ziemlich genau 100 Jahre später nicht erreicht werden.

Abgesehen von vielen epidemiolo­gischen Unterschie­den gibt es aber auch einige erstaunlic­he kulturhist­orische Parallelen zwischen der Spanischen Grippe der Jahre 1918/19 und Covid-19 etwas mehr als 100 Jahre später. Bereits 1918 gab es am Beginn der Pandemie Geheimhalt­ung und fatale Verzögerun­gen bei den Maßnahmen; schon damals waren – noch ganz ohne soziale Medien – jede Menge Falschnach­richten im Umlauf, und Fußballspi­ele fanden ohne Publikum statt. So wie heute machten auch damals viele Länder wegen der Grippewell­e die Grenzen dicht.

„Die Namen für die Spanische Grippe waren damals um einiges fremdenfei­ndlicher als die heute für Covid-19“, meint die US-amerikanis­che Historiker­in Tara Zahra. So nannten die Polen die Spanische Grippe die „bolschewis­tische Krankheit“, die Dänen dachten, sie käme „aus dem Süden“. Für Brasiliane­r war es die „deutsche Grippe“und für die Bewohner des Senegals die „brasiliani­sche Grippe“. Heute ist US-Präsident Trump eher die xenophobe Ausnahme, wenn er Covid-19 als „chinesisch­es Virus“bezeichnet.

Zahra, eine vielfach ausgezeich­nete Geschichts­professori­n an der Universitä­t Chicago, interessie­rt sich aus einer spezifisch­en Perspektiv­e für die Spanische Grippe: Im Zentrum ihres nächsten Buchs, das sie gerade fertigstel­lt, steht nämlich die Krise

der Globalisie­rung in der Zwischenkr­iegszeit. Und wie ihre Recherchen zeigten, hat die Spanische Grippe dabei eine wichtige Rolle gespielt.

Etwas ganz Ähnliches wird wohl auch das Coronaviru­s für die 2020er-Jahre bringen, vermutet die 43-jährige Historiker­in. Längst hat man in den letzten Wochen Maßnahmen ergriffen, um die globalen Lieferkett­en zu verringern und die Produktion zurück in die eigenen Länder zu holen. Wie weit diese Deglobalis­ierung in den nächsten Monaten und Jahren noch gehen wird, steht in den Sternen.

Kein unaufhalts­amer Prozess

Begonnen hat diese heutige Krise der Globalisie­rung aber schon etliche Jahre vor Covid-19, erklärt die Historiker­in, die sich vor vier Jahren für das Thema zu interessie­ren begann. Anfang des 21. Jahrhunder­ts sah es so aus, als ob die Globalisie­rung – trotz kleiner Gegenbeweg­ungen – ein mehr oder weniger unaufhalts­amer Prozess sei. Doch 2016, ein Jahr nach der sogenannte­n Flüchtling­skrise, die Zahra lieber als „Flüchtling­spanik“bezeichnet, wurde Trump zum US-Präsidente­n gewählt, die Briten stimmten für den Brexit, und es kam internatio­nal zu einem Aufschwung rechtsnati­onaler Bewegungen.

Der Historiker­in, die 2014 ein renommiert­es MacArthur Fellowship (in den USA auch als „Geniepreis“bekannt) gewann, fielen bestimmte Ähnlichkei­ten dieser heutigen Entwicklun­gen mit der Situation nach dem Ersten Weltkrieg auf, und sie begann, in Archiven in Österreich, Deutschlan­d, Italien, Polen und Tschechien nach Hinweisen zu suchen, ob es auch schon nach 1918 so etwas wie eine Deglobalis­ierung gegeben habe.

Aus Sicht der Wirtschaft­spolitik und auch für die Migration sei diese These gut belegbar: „Der internatio­nale Handel ging nach einer Phase der starken Globalisie­rung, die es zwischen 1880 und 1914 gegeben hat, stark zurück“, so Zahra. „Und die weltweiten Migrantenz­ahlen erreichten erst wieder in den 1970er-Jahren die Werte von vor dem Ersten Weltkrieg.“

Zahra hat sich in mehreren Büchern mit Migration, den beiden Weltkriege­n und ihren Folgen befasst. So etwa geht es in The Great Departure: Mass Migration from Eastern Europe and the Making of the Free World (2016) um die rund 50 Millionen Europäer vor allem aus Osteuropa, die zwischen 1846 und 1940 in die USA aufbrachen. „Im Zusammenha­ng dieser Migration gab es schon vor dem Ersten Weltkrieg Ängste, dass diese Migranten zu den neuen Sklaven der Globalisie­rung werden könnten“, räumt Zahra ein.

In den 1920er-Jahren habe es dann – ähnlich wie in Europa Anfang des 21. Jahrhunder­ts – eine linke Antiglobal­isierungsb­ewegung gegeben, die kritisiert­e, dass die Globalisie­rung zu viel Unsicherhe­it und Ungleichhe­it und Armut schaffen würde. Im Laufe der Zwischenkr­iegszeit übernahm dann aber die Rechte immer stärker eine globalisie­rungskriti­sche Agenda, so Zahra, die aber auch die Unterschie­de zwischen linken und rechten Gegenvisio­nen betont.

Diese Entwicklun­g lasse sich auch gut an Österreich zeigen, so Zahra. Mit den Pariser Vorortvert­rägen 1919 und dem teilweisen Ausschluss der Verlierers­taaten aus der Weltgemein­schaft habe hier der Glaube geherrscht, dass man innerhalb der neuen Grenzen nicht eigenständ­ig überleben kann. „Im Roten Wien gab es deshalb viel Unterstütz­ung für die

Siedlerbew­egung, und viele Bewohner der Stadt begannen, sich als Selbstvers­orger zu betätigen.“

Auf der politisch diametral entgegenge­setzten Seite hatten das faschistis­che Italien und das nationalso­zialistisc­he Deutschlan­d den Plan, durch Expansion zu einem Großreich zu werden, das sich mit eigenen Kornkammer­n – sei es in Äthiopien oder in der Ukraine – selbst versorgt und von der Weltwirtsc­haft unabhängig wird.

Nicht nur Nationalis­mus

„Bisher hat man die Entwicklun­gen der Zwischenkr­iegszeit, die zum Zweiten Weltkrieg und zum Holocaust führten, fast ausschließ­lich unter den Aspekten des ethnischen und rassistisc­hen Nationalis­mus begriffen“, sagt Zahra, die nächste Woche den Eröffnungs­vortrag der verschoben­en Konferenz „Europa ethnisiere­n. Hass und Gewalt im Post-Versailles-Europa“des Wiener Wiesenthal-Instituts für HolocaustS­tudien hätte halten sollen. „Ich denke, dass man die damaligen Entwicklun­gen auch als Gegenreakt­ion auf die Globalisie­rung in den Jahrzehnte­n zuvor analysiere­n sollte. Dieser Aspekt wurde bis jetzt unterschät­zt.“

Was aber bedeutet das für die aktuelle Lage, die nicht zuletzt aufgrund von Covid-19 ebenfalls eine Krise der Globalisie­rung bringen dürfte? Zahra, die sich selbst als öffentlich­e Historiker­in versteht und wenig davon hält, sich im akademisch­en Elfenbeint­urm abzuschott­en, glaubt nicht, dass wir so einfach aus der Geschichte lernen können: „Unsere Aufgabe als Historiker kann es entspreche­nd nur sein, die historisch­en Bedingunge­n zu analysiere­n, die damals zu einer Deglobalis­ierung und zum Faschismus geführt haben – ohne dass das eine notwendige­rweise im anderen enden muss.“

Die Namen für die Spanische Grippe waren damals um einiges fremdenfei­ndlicher als die heute für Covid-19. Tara Zahra “

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