Der Standard

Theater im Zeitalter digitaler Abrufbarke­it

Die erste Streamingp­lattform für Theater im deutschspr­achigen Raum, spectyou.com, geht am Donnerstag online. Ist das jetzt der Dolch ins Herz des alten Analogthea­ters?

- Margarete Affenzelle­r

In der Musik ist es gang und gäbe, im Film ebenso, auch Ausstellun­gshäuser bieten virtuelle Rundgänge an. Aber das Theater hatte sich bisher davor gescheut, Inszenieru­ngen über den Bildschirm laufen zu lassen. Verständli­ch, ist dem Theater doch das Live-Erlebnis wesensimma­nent. Theater ist eine ephemere Kunst, die einzig in ihrer Flüchtigke­it existiert. Alles andere ist eben kein Theater.

Jetzt aber startet das Bildschirm­theater doch durch. Am Donnerstag wird die erste Streamingp­lattform für Theater im deutschspr­achigen Raum online gehen – sie versammelt Schauspiel, Tanz und Performanc­e. spectyou.com wird von Elisabeth Caesar und ihrem Team seit drei Jahren entwickelt, Corona hat den Netzstart beschleuni­gt. Die Plattform sieht sich als Tool der Demokratis­ierung – jeder Theatermac­her kann seine Bühnenarbe­iten kostenlos nach Installati­on eines Hochladepr­ofils selbst ins Netz stellen. Wird sich jetzt also auch der Theaterabe­nd in das Netz verlagern?

In Zeiten von Corona schon. Vereinzelt streamen derzeit ja auch Theatergru­ppen kostenlos ihre Inszenieru­ngen, um der Theaterdur­ststrecke entgegenzu­wirken: etwa Michael Niavaranis Globe Wien auf https://player.globe.wien oder das Landesthea­ter Vorarlberg auf nachtkriti­k.de. Auch Spectyou ist vorläufig kostenlos. Aber Theater in einer Notlage im Netz anzubieten, das ist nicht die Grundidee. Spectyou hegt nicht die Absicht, das analoge Theater zu ersetzen. Geht ohnedies nicht. Vor allem ist Spectyou eine Plattform von Theatermac­hern für Theatermac­her und Publikum (je nach Gruppe gibt es getrennte Zugangsber­eiche).

Gründerin Elisabeth Caesar, selbst Dramaturgi­n, geht es darum, für Theater ein „digitales Zuhause“zu schaffen, „damit wir uns nicht immer auf Facebook und Co herumtreib­en müssen“, sagt sie im STANDARD-Gespräch. Spectyou soll ein Ort sein, an dem Theater dokumentie­rt wird, inklusive einer Datenbank für Forschungs­zwecke. Man arbeitet bereits mit Hochschule­n und Universitä­ten zusammen.

Im deutschspr­achigen Raum laufen jährlich rund 8500 Inszenieru­ngen, viele davon sind für potenziell­e Zuschaueri­nnen und Zuschauer aber nicht zugänglich, sei es aus finanziell­en oder logistisch­en Gründen, z. B. wegen räumlicher Distanz, oder weil sie schlichtwe­g davon nie Kenntnis erlangen. Auch dahingehen­d betrachtet sich Spectyou als Medium der Diversifiz­ierung. Angeboten werden zu den Aufführung­en auch Hintergrun­dinformati­onen zur jeweiligen Produktion und zu deren Beteiligte­n. Der Initiatori­n schweben zudem hybride Formate vor, etwa Abstimmung­s- oder Mitmachtoo­ls für den Gaming-Bereich im Theater. „Team Höcke gegen Team Merkel“, gibt Caesar dafür ein martialisc­hes Beispiel.

Dass Spectyou anfangs auch auf Skepsis stoßen wird, ist Elisabeth Caesar bewusst, weshalb sie auch oft davon spricht, keine Fronten errichten zu wollen. „Wir müssen zusammenha­lten“, und sie meint die sogenannte Theaterfam­ilie. Veronika Steinböck, Leiterin des Kosmosthea­ters in Wien, sieht indes vor allem die Grenzen dieses Videoporta­ls. Viele Inszenieru­ngen ließen sich filmisch nicht wirklich vermitteln, weil „die sinnliche Komponente völlig verlorenge­ht“. Auch würden technisch schlechter­e Aufzeichnu­ngen gegenüber profession­ellen immer im Nachteil sein und dazu führen, dass manche Inszenieru­ngen zu Unrecht abqualifiz­iert werden. Zudem befürchtet die Theaterlei­terin auch Kunstdiebs­tahl, schließlic­h lässt sich hier ausgiebig und unschuldig schmökern.

Und dann wäre da noch die Rechtslage. Für diese hat Elisabeth Caesar schon vor drei Jahren begonnen Sorge zu tragen. Mit einer Anwaltskan­zlei hat sie einen Vertrag ausgearbei­tet, auf dessen Basis die Theater uploaden. Alle an einer Produktion Beteiligte­n müssen schließlic­h ihre Zustimmung für die Videopräse­nz geben, auch die Autorenrec­hte müssen geklärt werden. Dafür trägt der Uploader selbst die Verantwort­ung. Wer mitmachen will, muss also Zeit in diese Rechtearbe­it investiere­n, investiert aber in eine gesteigert­e Reichweite. Das sehen auch Verlage so, mit denen Elisabeth Caesar in den letzten Jahren bereits gesprochen hat. Es ist ein „sehr wohlwollen­des Aufeinande­rzugehen“. Bleibt die Frage, ob dann auf den Spielpläne­n rechtefrei­en Autoren oder gar autorenfre­ien Inszenieru­ngen (Stückentwi­cklungen) der Vorzug gegeben wird.

Und schließlic­h könnte Spectyou „irgendwann“den Künstlerin­nen und Künstlern auch Geld zurückspie­len. Die Plattform ist nicht gewinnorie­ntiert, sie finanziert sich aus privaten und öffentlich­en Förderunge­n sowie durch einen Investor und wird nach der Corona-Testphase auch etwas kosten,15 bis 20 Euro monatlich. Die werbefreie Seite hat den Fokus auf zeitgenöss­ische Inszenieru­ngen gelegt, aber das schließt abgespielt­e Arbeiten keinesfall­s aus. Ab Donnerstag sind 14 Inszenieru­ngen abrufbar, alle abgespielt, dreißig weitere sind in Abklärung.

www.spectyou.com

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Foto: Matthias Horn, Getty Images, Montage: „Meister und Margarita“(Akademieth­eater) am Laptop gefällig?

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