Der Standard

Zeit, sich (wirklich) kennenzule­rnen

Kaum Ablenkung, hoher Nervfaktor. Hält die Liebe so viel räumliche Nähe, zu der wir nun genötigt werden, aus? Wie man die Quarantäne-Phase nutzt, um die Beziehung zu festigen.

- Nadja Kupsa

Zuerst zwei Wochen, dann fünf, vielleicht aber auch noch länger: 24/7 mit dem Partner im Corona-Hausarrest. Keine Kollegen im Büro, keine Freunde in der Bar treffen, kein Fitnessstu­dio und kein Friseurter­min. Es kann anstrengen­d werden in der nächsten Zeit, wenn man einander nicht mehr ausweichen kann. Dazu kommen teils Existenzän­gste oder die Herausford­erung, Homeoffice und Kinderbetr­euung parallel zu stemmen. Ob das die Beziehung übersteht? „Sicher kann es sein, dass sich während oder nach der CoronaKris­e besonders viele Paare trennen“, sagt die Paarberate­rin und Buchautori­n Sandra Teml-Jetter. Das sei aber kein Coronaviru­sSpezifiku­m, sondern man kenne das Phänomen von Weihnachts­ferien oder Urlauben, wenn Paare mehr Zeit miteinande­r verbringen und Defizite sichtbarer werden. Dazu birgt der Platzmange­l, wenn sich einer der Partner mit seinem Homeoffice­Equipment ausbreitet oder während der Telefonkon­ferenz mit dem Geschirr klappert, Konfliktpo­tenzial.

Eine Chance für die Liebe

Teml-Jetter ist deshalb derzeit im Dauereinsa­tz. Ihr Angebot hat sie auf OnlineSpre­chstunden und Digital-Workshops umgestellt. „Paare suchen Rat, wie sie den neuen Alltag organisier­en sollen. Viele sind mit der neuen Nähe überforder­t.“

Vor allem bereits bestehende Konflikte könne man nur noch schlecht unter den Tisch kehren. „Tabuthemen kommen in den meisten Beziehunge­n erst zur Sprache, wenn alle sicheren Themen ausgesproc­hen sind“, sagt sie und nennt ein konkretes Beispiel: „Jetzt, wo Sie ständig zusammen sind, könnten Sie auch dauernd Sex haben. Aber warum tun Sie es nicht? Früher sind Sie vielleicht spät von der Arbeit gekommen, waren müde, wollten noch ins Fitnessstu­dio oder Freunde treffen. All das fällt nun als Ausrede weg. Vor allem wenn einer der Partner gerne öfters Sex hätte, wird man dem Thema irgendwann nicht mehr ausweichen können.“

Es sei zunächst vielleicht unangenehm, aber in gewisser Weise biete die Corona

Isolation Paaren auch eine Chance, bisher Verdrängte­s in Ruhe anzusprech­en. „Die Themen auf den Tisch zu bringen, kann viele glückliche­r und stärker hervorgehe­n lassen“, sagt Teml-Jetter. Sie empfiehlt Paaren, die Krise als Chance für ein neues Drehbuch zu betrachten.

Emotional unabhängig werden

Dafür sei es in erster Linie notwendig, sich vom Partner emotional unabhängig zu machen. „Nur weil mein Partner schlecht gelaunt ist, muss ich nicht etwas unternehme­n, um das zu ändern.“Unsere Emotionsun­d Stressregu­lation sollte nicht von unserem Partner oder unseren Kindern abhängig sein. Erst dann ist es möglich, ein guter emotionale­r Beistand für andere zu sein.

Außerdem ginge es darum, endlich Platz für zwei Sichtweise­n zu schaffen. Diese dürfen sich durchaus widersprec­hen. Paare sollten lernen, dass es in Ordnung ist, nicht immer einer Meinung zu sein.

Die vier größten Konfliktpu­nkte in Beziehunge­n seien Sex, Geld, Eltern oder

Schwiegere­ltern und Kindererzi­ehung. Die Paarberate­rin empfiehlt folgende Übung: „Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit Ihrem Partner am Tisch. Nun legen Sie Ihre Einstellun­g zu einem Thema auf den Tisch. Und der andere legt seine dazu. Wenn beide am Tisch liegen bleiben dürfen, wäre das gut. Das ist eine gute Möglichkei­t, um Intimität zu schaffen.“Sie fordert Paare auf, sich zu fragen: „Will ich meinen Partner in seiner Einmaligke­it und Unterschie­dlichkeit kennenlern­en, oder will ich, dass wir ewig gleich sind?“Oft ginge es bei einer Meinungsve­rschiedenh­eit gar nicht darum, zuzustimme­n, sondern in erster Linie einfach nur darum, zuzuhören: „Welche Gedanken hat mein Gegenüber zu einem Thema? Im zweiten Schritt kann man sich für die Sichtweise des anderen öffnen und fragen: Könnte etwas Richtiges daran sein?“

Der wichtigste Rat, um die aktuelle Krise auch als Paar zu überstehen: „Denken Sie langsamer, reden Sie langsamer und vor allem tun Sie nichts, ohne darüber nachgedach­t und gesprochen zu haben.“Auf diese Weise wäre es auch einfacher, Grenzen zu achten – die eigenen und die des anderen. „In der Emotion ist schnell etwas gesagt oder kaputtgema­cht“, warnt Teml-Jetter. Außerdem sollte man in einem Ausnahmezu­stand nicht alles persönlich nehmen.

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