Zeit, sich (wirklich) kennenzulernen
Kaum Ablenkung, hoher Nervfaktor. Hält die Liebe so viel räumliche Nähe, zu der wir nun genötigt werden, aus? Wie man die Quarantäne-Phase nutzt, um die Beziehung zu festigen.
Zuerst zwei Wochen, dann fünf, vielleicht aber auch noch länger: 24/7 mit dem Partner im Corona-Hausarrest. Keine Kollegen im Büro, keine Freunde in der Bar treffen, kein Fitnessstudio und kein Friseurtermin. Es kann anstrengend werden in der nächsten Zeit, wenn man einander nicht mehr ausweichen kann. Dazu kommen teils Existenzängste oder die Herausforderung, Homeoffice und Kinderbetreuung parallel zu stemmen. Ob das die Beziehung übersteht? „Sicher kann es sein, dass sich während oder nach der CoronaKrise besonders viele Paare trennen“, sagt die Paarberaterin und Buchautorin Sandra Teml-Jetter. Das sei aber kein CoronavirusSpezifikum, sondern man kenne das Phänomen von Weihnachtsferien oder Urlauben, wenn Paare mehr Zeit miteinander verbringen und Defizite sichtbarer werden. Dazu birgt der Platzmangel, wenn sich einer der Partner mit seinem HomeofficeEquipment ausbreitet oder während der Telefonkonferenz mit dem Geschirr klappert, Konfliktpotenzial.
Eine Chance für die Liebe
Teml-Jetter ist deshalb derzeit im Dauereinsatz. Ihr Angebot hat sie auf OnlineSprechstunden und Digital-Workshops umgestellt. „Paare suchen Rat, wie sie den neuen Alltag organisieren sollen. Viele sind mit der neuen Nähe überfordert.“
Vor allem bereits bestehende Konflikte könne man nur noch schlecht unter den Tisch kehren. „Tabuthemen kommen in den meisten Beziehungen erst zur Sprache, wenn alle sicheren Themen ausgesprochen sind“, sagt sie und nennt ein konkretes Beispiel: „Jetzt, wo Sie ständig zusammen sind, könnten Sie auch dauernd Sex haben. Aber warum tun Sie es nicht? Früher sind Sie vielleicht spät von der Arbeit gekommen, waren müde, wollten noch ins Fitnessstudio oder Freunde treffen. All das fällt nun als Ausrede weg. Vor allem wenn einer der Partner gerne öfters Sex hätte, wird man dem Thema irgendwann nicht mehr ausweichen können.“
Es sei zunächst vielleicht unangenehm, aber in gewisser Weise biete die Corona
Isolation Paaren auch eine Chance, bisher Verdrängtes in Ruhe anzusprechen. „Die Themen auf den Tisch zu bringen, kann viele glücklicher und stärker hervorgehen lassen“, sagt Teml-Jetter. Sie empfiehlt Paaren, die Krise als Chance für ein neues Drehbuch zu betrachten.
Emotional unabhängig werden
Dafür sei es in erster Linie notwendig, sich vom Partner emotional unabhängig zu machen. „Nur weil mein Partner schlecht gelaunt ist, muss ich nicht etwas unternehmen, um das zu ändern.“Unsere Emotionsund Stressregulation sollte nicht von unserem Partner oder unseren Kindern abhängig sein. Erst dann ist es möglich, ein guter emotionaler Beistand für andere zu sein.
Außerdem ginge es darum, endlich Platz für zwei Sichtweisen zu schaffen. Diese dürfen sich durchaus widersprechen. Paare sollten lernen, dass es in Ordnung ist, nicht immer einer Meinung zu sein.
Die vier größten Konfliktpunkte in Beziehungen seien Sex, Geld, Eltern oder
Schwiegereltern und Kindererziehung. Die Paarberaterin empfiehlt folgende Übung: „Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit Ihrem Partner am Tisch. Nun legen Sie Ihre Einstellung zu einem Thema auf den Tisch. Und der andere legt seine dazu. Wenn beide am Tisch liegen bleiben dürfen, wäre das gut. Das ist eine gute Möglichkeit, um Intimität zu schaffen.“Sie fordert Paare auf, sich zu fragen: „Will ich meinen Partner in seiner Einmaligkeit und Unterschiedlichkeit kennenlernen, oder will ich, dass wir ewig gleich sind?“Oft ginge es bei einer Meinungsverschiedenheit gar nicht darum, zuzustimmen, sondern in erster Linie einfach nur darum, zuzuhören: „Welche Gedanken hat mein Gegenüber zu einem Thema? Im zweiten Schritt kann man sich für die Sichtweise des anderen öffnen und fragen: Könnte etwas Richtiges daran sein?“
Der wichtigste Rat, um die aktuelle Krise auch als Paar zu überstehen: „Denken Sie langsamer, reden Sie langsamer und vor allem tun Sie nichts, ohne darüber nachgedacht und gesprochen zu haben.“Auf diese Weise wäre es auch einfacher, Grenzen zu achten – die eigenen und die des anderen. „In der Emotion ist schnell etwas gesagt oder kaputtgemacht“, warnt Teml-Jetter. Außerdem sollte man in einem Ausnahmezustand nicht alles persönlich nehmen.