Der Standard

Wie hoch darf der Preis sein, um Leben zu retten?

Die Regierung fährt das öffentlich­e Leben herunter, die Wirtschaft steht still. Tausende Österreich­er haben bereits ihren Job verloren, viele werden folgen. Ist das angemessen? Ein philosophi­scher Blick.

- ESSAY: Aloysius Widmann

Stellen Sie sich vor, Sie wissen nicht, wie alt Sie sind. Und Sie wissen auch nicht, ob Sie krank sind. Sie könnten im hohen Alter und bei bester Gesundheit sein. Sie könnten ein junger Erwachsene­r mit einer chronische­n Erkrankung sein. Aber Sie könnten auch zu jenem Teil der Bevölkerun­g gehören, der zu den am stärksten von der Corona-Pandemie bedrohten Menschen zählt: über 60 und mit Vorerkrank­ungen. Aber Sie wissen es nicht. Was würden Sie gegen die Ausbreitun­g des Erregers tun?

Das Gedankenex­periment ist eine abgewandel­te Version des „Schleier des Nichtwisse­ns“des Philosophe­n John Rawls. Je weniger wir über uns und unsere soziale Position wissen, so der Philosoph, desto eher einigen wir uns auf eine gerechte Gesellscha­ft. Mit Blick auf das Coronaviru­s heißt das: Möglicherw­eise stellt sich heraus, dass wir selbst oder unsere Liebsten zur Risikogrup­pe gehören, sobald der Schleier gelüftet wird und wir erfahren, wie alt und gesund wir sind. Deshalb würden wir uns laut Rawls darauf einigen, dass selbst die Schwächste­n nicht allzu schlecht dastehen – es könnte ja einen selbst treffen.

Das Gedankensp­iel aus den 1970er-Jahren ist in Zeiten der Corona-Pandemie sehr relevant. Denn Regierunge­n stehen vor einer großen ethischen Frage: Was kann man der Bevölkerun­g zumuten, um einige Tausend Leben zu retten? Die Leben der „Verletzlic­hsten“, wie Bundespräs­ident Alexander Van der Bellen sagte. Aber es geht auch um die, von denen Verzicht auf Freiheiten und Wohlstand verlangt wird.

Seit vergangene­r Woche gelten in Österreich strenge Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Nur, was die Menschen für das alltäglich­e Leben brauchen, ist noch im Handel erhältlich. Versammlun­gen sind verboten, die Schulen geschlosse­n, viele arbeiten von zu Hause aus oder gar nicht. Allein von Montag bis Donnerstag verzeichne­te das AMS fast 100.000 neue Arbeitslos­e. Die Wirtschaft schlittert sehenden Auges in eine tiefe Krise. Ist das angemessen?

Die Frage ist nicht nur deshalb schwierig zu beantworte­n, weil es so viele Unsicherhe­iten gibt. Hier stoßen individuel­le und kollektive Bedürfniss­e aufeinande­r sowie medizinisc­he und wirtschaft­liche Interessen. Für eine umfassende Antwort muss man die Ethik heranziehe­n.

Alternativ­lose Maßnahme

Zumindest für die Notmaßnahm­en gibt es derzeit wohl keine Alternativ­e. Das belegt schon die Einigkeit von Regierung und Opposition. Andere europäisch­e Demokratie­n gehen denselben Weg, egal wer regiert. Selbst US-Präsident Donald Trump, der die Gefahr durch den neuartigen Erreger zuerst herunterge­spielt hat, rief letztlich den nationalen Notstand aus. Und auch die britische Regierung, die zunächst auf Durchseuch­ung setzte, ruderte zurück.

„Wer die stärksten Interessen im Spiel hat, dessen Anliegen sollten Vorrang haben“, erklärt Kirsten Meyer, Philosophi­eprofessor­in an der Berliner Humboldt-Universitä­t: „Es gibt kein stärkeres Interesse als das Interesse am eigenen Leben.“Deshalb seien die Maßnahmen ethisch gedeckt. Es gehe nicht nur um die Leben, die direkt vom Coronaviru­s bedroht sind. Sondern auch um die, die darauf angewiesen sind, dass es in den Spitälern genügend Betten gibt. Man könne nicht bewusst auf eine Situation zusteuern, in der man sich entscheide­n muss, wer die lebensrett­ende Behandlung bekommen soll und wer nicht. „Die meisten ethischen Theorien sind da kategorisc­h“, erklärt Meyer: Die Einschränk­ungen seien notwendig.

In der Praxis stellt sich das Problem ein bisschen diffiziler dar. Noch können es sich Regierunge­n leisten, die Menschen für den Verlust des Arbeitspla­tzes oder Einbußen beim Einkommen zu entschädig­en. Vor allem jene, die sich bisher in Haushaltsd­isziplin geübt haben, haben finanziell­e Spielräume. Kredite können wie in Italien gestundet werden, Mieten auch. Allerdings kann dies kein dauerhafte­r Zustand sein. Denn je länger Menschen in ihren Freiheiten eingeschrä­nkt werden, desto weniger Verständni­s werden sie dafür zeigen – desto gewichtige­r werden ihre berechtigt­en Interessen.

Einzelne nicht opfern

Eine allzu lange Quarantäne bedeutet neben handfesten ökonomisch­en Einbußen auch Einsamkeit, Fadesse und Frustratio­n. Es gibt neben viel Applaus auch die, die davor warnen, dass der Standby-Modus mehr Opfer fordert, als er Leben rettet. Wie weit darf also die Regierung gehen? Eine Formel dafür liefert der Utilitaris­mus. Stark vereinfach­t besagt er, man solle das Wohlbefind­en der größten Zahl an Menschen fördern. Ist das kollektive Wohlbefind­en insgesamt größer, wenn Risikogrup­pen um der Freiheit der vielen willen geopfert werden? Es gibt Interpreta­tionsspiel­raum, die Schlagrich­tung des Utilitaris­mus ist aber klar: Wenn nötig, wird das Glück des Einzelnen geopfert.

Hinter dem Schleier des Nichtwisse­ns wird sich der Utilitaris­mus kaum durchsetze­n. Wer würde einer Gesellscha­ftsform zustimmen, die einen zum Wohl der anderen opfern würde? Allerdings werden wir vom Staat auch nicht verlangen, dass er das Leben eines Einzelnen um den Preis eines Systemkoll­apses rettet.

Weiterhelf­en kann eine andere berühmte Formel, die Immanuel Kant im 18. Jahrhunder­t niedergesc­hrieben hat – und zwar in mehreren Varianten. Eine Formulieru­ng des kategorisc­hen Imperativs sagt, dass der Mensch niemals nur als Mittel zum Zweck behandelt werden solle. Man müsse die Würde des Menschen berücksich­tigen. Das heißt, dass man die verletzlic­hsten Mitglieder der Gesellscha­ft nicht einfach opfern darf, um die Wirtschaft und Freizeitge­wohnheiten zu schonen. Harte Maßnahmen zum Schutz von Leben sind demnach geboten.

Einsamer Tod

Kants Formel verlangt aber auch Augenmaß. Denn Besuchsver­bote in Krankenhäu­sern etwa kratzen sehr wohl an der Würde der Menschen, die ihre letzten Atemzüge womöglich nicht im Kreis ihrer Angehörige­n tun können. Auch spricht der kategorisc­he Imperativ dagegen, verletzlic­he Menschen so lange unter Quarantäne zu stellen, bis die Gefahr für sie gebannt ist. Bewegungsf­reiheit, soziale Kontakte, Risiken einzugehen – das alles gehört zur Würde des Menschen.

Den von der Corona-Pandemie heimgesuch­ten Ländern steht ein Balanceakt bevor. Denn wer sich unter Experten umhört, bekommt immer wieder zu hören: Ohne Durchseuch­ung und Herdenimmu­nität wird es langfristi­g nicht gelingen, das Gesundheit­ssystem vor dem Kollaps zu bewahren. Britische Wissenscha­fter errechnete­n in einer jüngst veröffentl­ichten Studie, dass das Coronaviru­s spätestens zwei Monate nach Stopp der Maßnahmen wieder ausbrechen würde. Um das Virus zu unterdrück­en, müssen die sozialen Interaktio­nen für mindestens fünf Monate herunterge­fahren werden, so die Forscher. Auch Bundeskanz­ler Sebastian Kurz (ÖVP) hat jüngst gesagt, dass es noch „sehr, sehr lange dauern“werde, bis in Österreich wieder Normalbetr­ieb herrscht.

Was die Regierung tun kann, ist, Vertrauen herzustell­en, dass die Maßnahmen wirken und sie bloß auf Zeit eingesetzt werden. Vertrauen, dass individuel­le Freiheiten geschätzt werden und erzwungene Einschränk­ungen des privaten Lebens zwar zum politische­n Werkzeugka­sten gehören, aber nur in äußersten Notfällen. Dann werden die Menschen nicht aufbegehre­n, wenn persönlich­e Freiheiten im Ernstfall erneut eingeschrä­nkt werden.

Begeben Sie sich wieder hinter den Schleier des Nichtwisse­ns. Diesmal vergessen Sie alles: Geschlecht, Alter, Gesundheit, Beruf, einfach alles. Sie könnten eine 25-jährige Start-up-Gründerin sein, ein 34-jähriger Koch, Sie wissen es nicht. Das Coronaviru­s bricht aus. Worauf einigen Sie sich? Es gibt sehr viele Interessen, die zählen. Aber Sie wollen sicher nicht, dass die Gesellscha­ft auf Ihr Interesse am Leben vergisst.

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Foto: Reuters Das Schlimmste, das passieren kann, ist: zwei Schwerkran­ke und nur ein freies Bett. Das zu verhindern darf kosten.

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