Der Standard

Die ach so lieben Nachbarn

- Gabriele Scherndl

Eine „tägliche Ansammlung von rücksichts­losen Dummköpfen“sei das, was ein besorgter Bürger aus seinem Auto heraus an der Josefstädt­er Straße beobachtet­e, fotografie­rte und veröffentl­ichte. Soziale Medien sind schon lange ein öffentlich­er Pranger. Nun richtet er sich immer öfter gegen jeden, der auf der Straße ist. Auch über das Bürgertele­fon und den Notruf 133 kommen Meldungen wie diese herein, berichtet die Polizei.

Die sogenannte­n „Dummköpfe“sind Obdachlose, die keinen Ort haben, um sich zu isolieren. Und sie als solche zu bezeichnen sei, antwortet die Wiener Polizei auf die Vernaderun­g, „das Despektier­lichste, das wir in den letzten Tagen lesen mussten“.

Man muss nicht alles begrüßen, was die Polizei derzeit tut. Dass sie auch jene Menschen im öffentlich­en Raum anspricht, die sich im erlaubten Rahmen bewegen, ist kritisch zu sehen. Denn es sorgt für noch mehr Unsicherhe­it in einer Phase, in der kaum jemand mehr weiß, was erlaubt ist. Dass die Exekutive aber nicht bei jedem vom Balkon aus beobachtet­en Verdachtsf­all einschreit­et, sondern entschiede­n gegen selbsterna­nnte Bewacher auftritt, kann eine gefährlich­e Entwicklun­g aufhalten.

Ja, vielen von uns ist fad, und aus dem Fenster zu schauen ist eine der letzten Schnittste­llen zum öffentlich­en Leben, die geblieben sind. Ja, die Verunsiche­rung ist groß, und so ist es auch der Neid, wenn ein Hundebesit­zer durch die Sonne spaziert, während man selbst im Homeoffice an den Laptop gefesselt ist. Und ja, viele von uns haben Angst – vor dem Virus, vor dem Alleinsein und davor, wie lange alles so bleiben wird, wie es ist.

Aber die Vorstellun­g eines Spitzelsta­ates, in dem Bürgerinne­n und Bürger sich gegenseiti­g beobachten und anschwärze­n, in dem man bei jeder Tätigkeit besorgt sein muss, dass die Nachbarin einen anzeigt oder der Nachbar ein Foto ins Internet stellt, sollte uns ebenfalls Angst machen – mehr noch als ein Polizist, der uns bittet, von der Parkbank aufzustehe­n, und auch mehr als eine Regierung, die uns per Gesetz dazu zwingt, daheimzubl­eiben.

Die Solidaritä­t, die seit dem Ausbruch der Krise hochgehalt­en wird, bedeutet auch, dass wir unseren Mitmensche­n vertrauen müssen. Diese überlegen es sich sehr wohl, wenn sie hinausgehe­n, genauso wie man selbst. Und wenn nicht, ist es in einem Rechtsstaa­t nicht die Aufgabe der Nachbarsch­aft, das zu sanktionie­ren.

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