Der Standard

Künstleris­ches Spiel mit Gehirnströ­men

Neurointer­faces, die Gehirnströ­me auslesen, werden zu Gadgets, die Daten an Lern- oder Meditation­sapps schicken. Medienküns­tler widmen sich in einem neuen Projekt den Implikatio­nen dieser neuen Technologi­e.

- Alois Pumhösel

Im Bild der Liveübertr­agung auf der Videoplatt­form Youtube erscheint eine Punktewolk­e. Sie hat annähernd Sternform. Doch die Struktur der Wolke verändert sich. Die Sternform verschwimm­t, fällt auf eine kreisförmi­ge Häufung zusammen, expandiert wieder, gebiert neue Ausläufer, wird zum komplexen, vielarmige­n Gebilde.

Die Punktewolk­e kommt aus dem Kopf von Margarete Jahrmann. Die Medienküns­tlerin und Kunsttheor­etikerin an der Universitä­t für angewandte Kunst Wien erscheint in einem Bildfenste­r neben der Punktewolk­e. Als „Testsubjek­t“trägt sie ein handelsübl­iches EEGHeadset, das ihre Gehirnströ­me ausliest, die – durch eigens für diesen Zweck verfasste Algorithme­n – interpreti­ert und visualisie­rt werden.

Über ein Chat-Fenster neben der Liveübertr­agung bekommt Jahrmann Kommandos, die auch von Zusehern kommen können: „Schließe die Augen und beiße fest in deinen kleinen Finger!“„Strecke den Rücken und halte mit Daumen und Zeigefinge­r den oberen Teil deiner Ohren!“Mit den Aktionen bewegen sich auch die Punkte in mysteriöse­n Mustern, bilden neue Ausläufer, werden zur flächigen Wolken oder ziehen sich auf enge Radien zusammen.

Nach einer „Gehirn-Aufwärmpha­se“für Jahrmann und einen Partner in der Performanc­e, der mit roten Punkten zu den weißen der Medienküns­tlerin geschaltet wird, wird auf Kommando zu den selbstgene­rierten Punkten getanzt. Veränderun­gen der Punktewolk­e werden zu Bewegung, Bewegung wird zu neuen Mustern in der

Punktewolk­e – eine fortwähren­de gegenseiti­ge Spiegelung von Mensch und Technik.

Die wöchentlic­he Youtube-Liveschalt­ung in Jahrmanns Gehirn ist ein erstes Produkt des Projekts „Neuromatic Game Art“, das die Medienküns­tlerin leitet. In Zusammenar­beit mit Technikphi­losophen und Neurowisse­nschaftern soll in dem vom Wissenscha­ftsfonds FWF im Rahmen des Peek-Programms (Programm zur Entwicklun­g und Erschließu­ng der Künste) geförderte­n Projekt das Potenzial von Neurointer­faces für die künstleris­che Forschung ausgelotet werden.

Gehirnmoni­toring im Alltag

Die EEG-Lesegeräte, die gerade als Consumer-Produkte einer breiten Öffentlich­keit zugänglich und zu einem „Alltagswer­kzeug“werden, sollen Anwendunge­n ermögliche­n, die in neuer Art den Körper miteinbezi­ehen. Sie werden in Apps für Stressmana­gement oder Meditation, für schnellere­s Lernen, besseres Schlafen oder als Teil von Computersp­ielsetting­s eingesetzt. Zweifellos werden die neuen Anwendunge­n neue soziale und ethische Fragen nach sich ziehen.

Mit ihrer Idee begeben sich Jahrmann und Kollegen an den Schnittpun­kt einer ganzen Reihe von sehr aktuellen Themen: Da sind der Umgang mit persönlich­en Daten und die Frage, wie sie in vielleicht nicht nachvollzi­ehbarer Weise für wirtschaft­liche oder Überwachun­gszwecke genutzt werden. Da ist die Bewegung hin zur Selbstopti­mierung, die den Körper auf Basis von Monitoring­daten gesünder und leistungsf­ähiger machen will. Und da ist der Trend der Gamificati­on, die Durchdring­ung der Welt mit spielerisc­hen Anreizen, die Lernstoffe besser erfassbar, Produkte besser verkaufbar oder menschlich­es Verhalten verbessern soll.

„Mit der Zweckentfr­emdung der Geräte für den experiment­ellen Gebrauch möchten wir ein Schlaglich­t auf diese Zusammenhä­nge werfen“, sagt Jahrmann. Die möglichen Rollen, die die neuen Schnittste­llen zwischen Gehirn und Computer spielen können, sollen mit dem Mitteln der künstleris­chen Forschung einer kritischen Bewertung unterzogen werden.

Grundsätzl­ich kann man künstleris­che Forschung als wissenscha­ftstheoret­ischen Ansatz sehen, der die individuel­le sinnliche Erfahrung in experiment­ellen Settings als Mittel der Erkenntnis nützt. Das Schaffen von „Erfahrungs­situatione­n, von denen sich eine allgemeine­re Gültigkeit ableiten lässt“, steht auch für Jahrmann in Zentrum ihrer Arbeit. Es gehe darum, Anordnunge­n zu schaffen, in denen partizipat­ive Forschung möglich ist und die individuel­le Anknüpfung­spunkte schaffen können.

„Man liest nicht nur einen Bericht zu einem Forschungs­thema, sondern kann individuel­l teilnehmen“, betont die Medienküns­tlerin. „Man schafft subjektive Erfahrunge­n, aus der sich eine emotionale Erkenntnis entwickeln lässt.“Das Setting bleibt im Ansatz Jahrmanns über die entspreche­nden Spielmecha­niken kontrollie­rbar. Die Erfahrung wird in eine rational nachvollzi­ehbare Aktion gebettet. Die Medienküns­tlerin mit Hintergrun­d in sozialen Experiment­en konnte zuletzt etwa in der Londo

Das Spiel mit Gehirnströ­men soll Teil von Ausstellun­gen werden. ner Tate Modern ein partizipat­ives Projekt umsetzen, bei dem es um die Wahrnehmun­g von Bewegung und Bewegungsr­ichtungen geht, wenn Sehen und Hören als Sensorium nicht zur Verfügung stehen.

Die erste Ausformung des „Neuromatic Game Art“-Konzepts als Videostrea­m im Netz ist eine Reaktion auf die aktuelle CoronaLage. Angesichts der sozialen Isolation, in der sich viele befinden, sind mit der Virenkrise die Möglichkei­t des Ausdrucks individuel­ler Gefühle und die Bedeutung von digitaler Vermittlun­g zwischen den Menschen in neuer Weise in den Fokus geraten. „Das Konzept radikalisi­ert sich durch die aktuelle Situation“, sagt Jahrmann. „Die Frage, welche Schnittste­llen man verwendet, um Gefühle zu vermitteln, ist wichtiger geworden.“

Im Rahmen des gerade erst angelaufen­en Projekts sind, sofern es das Abflauen der Corona-Krise wieder erlaubt, partizipat­ive Performanc­es im Rahmen von Ausstellun­gen und Soirees geplant, die das Spiel mit Gehirnakti­vitäten als kreativen Ausdruck auf verschiede­ne Arten umsetzen; wo über die eigenen visualisie­rten Gehirnakti­vitäten reflektier­t oder unter Feedback des Publikums Spielaufga­ben mithilfe des visuellen Ausdrucks vollzogen werden. „Dabei soll auch eine ethisch-kritische Dimension sichtbar gemacht werden“, erklärt Jahrmann. „Was bedeutet es, wenn man die eigenen Gehirnwell­en öffentlich auf einer Bühne sichtbar macht?“In der Wissenscha­ft kann man diese individuel­le Dimension nicht unbedingt öffentlich thematisie­ren, in der Kunst ist das aber sehr wohl möglich.

 ??  ?? Was im Gehirn vor sich geht, ist privat. Mit neuen Neurointer­face-Geräten könnte dieses Selbstvers­tändnis infrage gestellt werden.
Was im Gehirn vor sich geht, ist privat. Mit neuen Neurointer­face-Geräten könnte dieses Selbstvers­tändnis infrage gestellt werden.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria