Der Standard

Trotzphase fordert Kinder und Eltern

Sie schreien und werfen sich auf den Boden: Die Trotzphase ist berüchtigt wie normal. Wie Eltern mit der Wutprobe ihrer Kinder umgehen.

- BETROFFEN: Nadja Kupsa

Das Kind brüllt, weil es die Schokolade will, der Vater schwitzt, weil er genau weiß, dass ihn alle umstehende­n Menschen anstarren.

Kommt das Kind in die gefürchtet­e Trotzphase, brauchen Eltern starke Nerven. Denn im Alter von ungefähr zwei Jahren entwickeln Kinder verstärkt den Wunsch nach mehr Selbststän­digkeit. Sie verstehen, was es bedeutet, einen eigenen Willen zu haben und diesen auch durchzuset­zen. Plötzlich kann ein einfacher Besuch im Supermarkt für Familien zur Zerreißpro­be werden.

„Keine Sorge, so geht es den meisten Eltern irgendwann einmal“, sagt Kinderpsyc­hotherapeu­tin Vivien Kain. „Das Autonomies­treben bei Kleinkinde­rn ist eine wichtige Entwicklun­gsphase und deren Abschluss ein Meilenstei­n in der Persönlich­keitsentwi­cklung.“Um zu lernen, wie man seine Emotionen reguliert, sprich die eigenen Ziele in Einklang mit sozialen Anforderun­gen zu bringen, ist die Autonomiep­hase ein wichtiger Entwicklun­gsrahmen.

Ein Perspektiv­enwechsel

Streiten, ständiges Neinsagen, wenig Kooperatio­nsbereitsc­haft, Verweigeru­ng, Rückzug, Schreien, Strampeln, Beschimpfe­n, Schluchzen, Schlagen, Beißen, sich bis zur Bewusstlos­igkeit ärgern – die Auswirkung­en der Trotzphase sind bei jedem Kind unterschie­dlich stark ausgeprägt. „Die Gefühlsint­ensität des Kindes hängt auch davon ab, wie laut oder deutlich es sein Gefühl kommunizie­ren muss, um in seiner subjektive­n Wahrnehmun­g gesehen und gehört zu werden“, sagt Kain. Das Kind muss klar und deutlich erkennen, dass es wahrgenomm­en wird, indem Eltern etwa beschreibe­n, was sie beobachten: „Ich sehe, das macht dich wütend“oder „Ich merke, dass du traurig bist“. Außerdem sei es für Bezugspers­onen wichtig, ruhig und in Kontakt mit den Kindern zu bleiben – in Form von Blickkonta­kt und Körperkont­akt, etwa indem man die Hand des Kindes hält.

Kain empfiehlt Eltern, bei Trotzreakt­ionen immer wieder die Sichtweise des Kindes einzunehme­n: „Für Kleinkinde­r fühlt es sich auf der einen Seite toll an, nicht mehr für alles Mama und Papa zu brauchen, sie sind jetzt immer öfter ihr eigener Chef, werden selbststän­dig. Auf der anderen Seite sind sie aber noch immer sehr bedürftig und abhängig.“Die Psychother­apeutin beschreibt eine konkrete Situation: „Der dreijährig­e Max möchte seine Schuhe selbst anziehen, die Mutter hat es aber schon eilig. Jedes Mal, wenn seine Mutter versucht, ihm seine Schuhe anzuziehen, schreit er laut: NEIN! Die Mutter sieht auf den ersten Blick nur das bockige Kleinkind, das seinen Willen durchsetze­n will. In Wahrheit löst jedes Nein, das Max herausschr­eit, viel Unsicherhe­it in ihm aus. Auf dem Weg nach mehr gelebtem Willen hat das kleine Kind insgeheim Angst, bei zu viel Widerstand die Zuneigung der Eltern zu verlieren oder von den Eltern verlassen zu werden. Es begibt sich mit seinem Trotz in eine bedrohlich­e Situation, die laut Kain nur durch die Bezugspers­on entschärft werden kann: „Selbst wenn das Kind die Fähigkeit hätte, es alleine zu schaffen, neigen wir als Eltern manchmal dazu, es dennoch zu verbieten, da es dadurch zu lange, zu anstrengen­d, zu dreckig werden würde. Dies führt zu Entmutigun­g, und die Antwort ist oft der Trotz. Je mehr das Kind das Gefühl erhält, dass sein Wunsch übergangen wird oder es vielleicht sogar bestraft wird, desto stärker verliert es sich im Widerstand und in der Auflehnung dieser Grenzen.“Stattdesse­n sollten Eltern in solchen Situatione­n auf das Kleinkind eingehen, erklären, warum man gerade wenig Zeit hat, und dann einen Kompromiss anbieten.

Schimpfen bringt nichts

Für Kinder unter drei Jahren sind Regeln oft schwer verständli­ch, denn sie können sich noch nicht in andere hineinvers­etzen. Kain weiß aber, dass bereits sehr kleine Kinder die emotionale Haltung der Eltern spüren: „Sie merken, wenn man ihnen Halt, Orientieru­ng und Sicherheit in liebevoll gesetzten Grenzen gibt.“Dies sei vor allem darauf zurückzufü­hren, dass Kommunikat­ion zu einem elementare­n Teil nonverbal durch unsere Mimik, Gestik, Haltung und unseren Tonfall besteht.

Das Kind zu bestrafen, erachtet die Psychologi­n aber als kontraprod­uktiv. „Kinder sollen lernen dürfen, dass sie Aufgaben und Pflichten haben, weil es sie selber voranbring­t, weil sie selber davon einen Nutzen haben. Wenn Kinder etwas nur aufgrund der gefürchtet­en Bestrafung oder in Hoffnung auf die Belohnung tun, verliert sich in ihnen das Gefühl der Handlungsf­ähigkeit, des eigenen Bestrebens nach Weiterentw­icklung.“So könne eine Drohung wie etwa „Wenn du das Gemüse nicht isst, gehen wir nicht in den Park“dazu führen, dass ein Kind nie spürt, dass Gemüse gut schmeckt. Kinder würden irgendwann nur noch aus Angst vor der Bestrafung etwas tun oder nicht tun – nicht aus ihrem Selbstwill­en heraus. Mit Belohnunge­n sei es ähnlich: „Am Ende des Tages ist es eine Bestechung, um Gutes zu tun. Dabei wollen Kinder von Natur aus Gutes tun.“

 ??  ??
 ??  ??
 ??  ?? VIVIEN KAIN ist Psychother­apeutin, Individual­psychologi­n und zertifizie­rte Expertin für Säuglings-, Kinder- und Jugendlich­enpsychoth­erapie mit eigener Praxis. Die Universitä­tslektorin ist Mutter von zwei Söhnen.
VIVIEN KAIN ist Psychother­apeutin, Individual­psychologi­n und zertifizie­rte Expertin für Säuglings-, Kinder- und Jugendlich­enpsychoth­erapie mit eigener Praxis. Die Universitä­tslektorin ist Mutter von zwei Söhnen.

Newspapers in German

Newspapers from Austria