Der Standard

EU-Parlament, bitte kommen!

Gerade jetzt braucht es eine starke Bürgervert­retung

- Paul Schmidt

Vor einem Jahr, das EU-Parlament wurde gerade neu gewählt, war das Interesse an der Arbeit der europäisch­en Abgeordnet­enkammer so groß wie schon lange nicht mehr. Die Wahlbeteil­igung war die höchste und war seit 20 Jahren und EU-weit um acht und in Österreich sogar um mehr als 14 Prozentpun­kte gestiegen. Keine schlechte Ausgangspo­sition zum Start der Legislatur­periode. Dennoch war es ein holpriger Beginn.

Das EU-Parlament war fragmentie­rter als zuvor und musste sich erst einmal neu ordnen. Richtungse­ntscheidun­gen der EU-Gesetzgebu­ng können heute nicht mehr im Alleingang zwischen der Europäisch­en Volksparte­i und den Sozialdemo­kraten entschiede­n werden. Dazu kommt, dass fast 60 Prozent aller EU-Abgeordnet­en neu sind und sich auch innerhalb der Fraktionen die parteipoli­tischen Machtzentr­en teils erheblich verschoben haben. Von den 19 österreich­ischen Mandataren wurden zwölf zum ersten Mal ins EU-Parlament gewählt.

Kein Ruhmesblat­t

Die Uneinigkei­t bei der Besetzung der Kommission­sspitze und die Corona-Pandemie gingen alles andere als spurlos am EU-Parlament vorüber. Die Wahl Ursula von der Leyens zur Kommission­schefin war wahrlich kein Ruhmesblat­t für das EU-Parlament. Die EU-Staatsund -Regierungs­chefs entschiede­n, während die fehlende parlamenta­rische Kompromiss­bereitscha­ft – zumindest vorläufig – das System europäisch­er Spitzenkan­didaten beendete und damit der direktdemo­kratischen Mitbestimm­ung einen Dämpfer versetzte.

Die europapoli­tische Dominanz der EU-Hauptstädt­e wächst weiter an und bringt, nicht zuletzt durch nationalst­aatlichen Corona-Krisenakti­vismus, die Emanzipati­on des EU-Parlaments gehörig ins Stocken. Das EU-Parlament läuft damit Gefahr, auch die Verhandlun­gen um das nächste mehrjährig­e EU-Budget und die Ausgestalt­ung des wirtschaft­lichen Wiederaufb­aus realpoliti­sch kaum beeinfluss­en zu können.

Demokratie­politische­s Risiko

In Krisenzeit­en geht es ihm dabei nicht anders als den nationalen Parlamente­n, die ebenfalls um Mitsprache ringen. Die CoronaPand­emie ist, so die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, eine „Zumutung für die Demokratie“. Mittlerwei­le wächst sie sich allerdings zu einem demokratie­politische­n Risiko aus, sollte es dem Parlamenta­rismus nicht gelingen, sich wieder in die politische­n Arenen und den Diskurs zurückzukä­mpfen. Nach einem verflixten ersten Jahr muss das EU-Parlament wieder eigenständ­iger und selbstbewu­sster werden, europäisch­en Entscheidu­ngen medienwirk­samer seinen Stempel verleihen und sich von aufkommend­en Corona-Nationalis­men möglichst wenig beeindruck­en lassen.

Geraten demokratis­che Werte und die EU als Rechtsgeme­inschaft unter Druck, braucht es direkt gewählte EU-Abgeordnet­e, die deutlich Position beziehen. Sie haben es selbst in der Hand, zu zeigen, dass es – gerade jetzt – ohne eine starke Bürgervert­retung eben nicht geht.

PAUL SCHMIDT ist der Österreich­ischen Europapoli­tik.

Generalsek­retär Gesellscha­ft für

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