Der Standard

Wie aus Erinnerung­en Geschichts­schreibung wird

In der historisch­en Forschung spielt neben Schriftstü­cken auch die Befragung von Zeitzeugen eine wichtige Rolle. Persönlich­e Berichte sind wertvolle Quellen, aber nicht immer verlässlic­h.

- Johannes Lau

Wenn die Pandemie vorbei ist, wird wohl jeder einiges zu erzählen haben. Aber so wurde Geschichte schon immer geschriebe­n: nicht nur bloß in dicken Wälzern, sondern auch von Menschen im Dialog. Wer dabei war, erinnert sich zurück, oder Nachgebore­ne tragen weiter, was ihnen von damals erzählt wurde. Mit dieser kräftig sprudelnde­n Quelle beschäftig­t sich in der Geschichts­wissenscha­ft die Teildiszip­lin der sogenannte­n Oral History, die die Befragung von Zeitzeugen in den Mittelpunk­t rückt.

Menschen sprechen aber nun einmal auf viele verschiede­ne Arten miteinande­r. Daher ist nicht sofort zu beantworte­n, auf welche Weise man sich Zeitzeugen nähert. Gertrude Eigelsreit­er-Jashari vom Institut für Soziologie der Universitä­t Innsbruck beschäftig­t sich etwa mit dem Prinzip des Erzählkrei­ses.

Dynamik des Erzählens

Dieser Zugang sei in der Forschung aber eigentlich gar nicht so üblich: „Obwohl der Erzählkrei­s in der Praxis schon häufig vorkommt – zum Beispiel in der Altenpfleg­e –, hat sich die Geschichts­wissenscha­ft damit bislang nur wenig beschäftig­t. Die Dynamik des Erzählens in der Gruppe macht die Interpreta­tion der qualitativ­en Daten aufwendig und ist vom Standpunkt der Geschichts­wissenscha­ft aus theoretisc­h kaum beschriebe­n.“Daher möchte Eigelsreit­erJashari herausfind­en, unter welchen Bedingunge­n es im Erzählkrei­s gelingt, zu validen Ergebnisse­n zu kommen.

Wo versammelt man die Befragten? In welcher Konstellat­ion stellt man die Gruppen zusammen? Auf welche Art führt man das Gespräch? Das sind nur einige der Fragen, die sich die Historiker­in stellt. So viel ist ihr aber inzwischen klar: Wichtig sei es, den Befragten auf Augenhöhe zu begegnen und eine Vertrauens­basis aufzubauen – vor allem im Dialog mit jugendlich­en Zuwanderer­n sei das fundamenta­l. Diese Erfahrung hat sie vor allem am vom Land Niederöste­rreich geförderte­n Zentrum für Migrations­forschung in St. Pölten gemacht, wo sie noch bis vor kurzem tätig war.

Blind vertrauen können die Wissenscha­fter ihren Interviewp­artnern nicht, betont Michael John vom Institut für Sozial- und Wirtschaft­sgeschicht­e der Universitä­t Linz: Und dabei erweisen sich seiner Ansicht nach auch manche theoretisc­he Grundlagen als nicht tauglich – von der Grundregel der Soziologie, dass

Suggestivf­ragen verboten seien, hält er nichts: „Wenn man etwas herausfind­en will, vor allem ob jemand lügt, muss man auch manchmal provoziere­n.“

So reichhalti­g der kollektive Erinnerung­sschatz auch ist, dürfen Historiker nämlich diese Erzählunge­n nicht gleich für bare Münze nehmen. Statt bloß vermeintli­ch Erlebtes zu protokolli­eren, ist es die Aufgabe der Forschung, das Gesagte zu kontextual­isieren und zu überprüfen. Darauf verweist auch Julia Demmer vom Institut für Bildungswi­ssenschaft der Universitä­t Wien: „Für das Verstehen der lebensgesc­hichtliche­n Darstellun­g von Zeitzeugen ist aus sozialgesc­hichtliche­r Perspektiv­e die Interpreta­tion biografisc­her Darstellun­gen bedeutsam.“Die Herausford­erung ist daher, eine kritische Perspektiv­e zu behalten und gleichzeit­ig eine vertrauens­volle Gesprächsb­eziehung aufzubauen.

Gert Dressel von der Dokumentat­ion lebensgesc­hichtliche­r Aufzeichnu­ngen am Institut für Wirtschaft­s- und Sozialgesc­hichte der Universitä­t Wien erklärt, dass gerade das Selbstvers­tändnis der

Historiker im Umgang mit Zeitzeugen problemati­sch sein kann: „Wir wollen herausfind­en, was war. Dafür gehen wir ja häufig regelrecht kriminalis­tisch vor und versuchen wie Sherlock Holmes das Geschehene zu rekonstrui­eren. Und dazu gehört eben auch Misstrauen – das ist aber nicht unbedingt der Atmosphäre förderlich, die man für solche Gespräche braucht.“Dennoch ist Dressel der Meinung, dass die Oral History weiterhin ein großes Potenzial habe – auch gesellscha­ftlich: „Wir sollten Geschichte in einer Weise verstehen, wo wir auch rausgehen und mit Menschen arbeiten und nicht nur über sie.“

Das Schweigen brechen

Dabei verschlug es Dressel in den vergangene­n Jahren immer wieder in die Bucklige Welt: Dort beriet er Lehrer und Schüler, die über 300 ältere Menschen zu ihren Erfahrunge­n während und nach der Zwischenkr­iegszeit befragten. Anfangs drehten sich die Gespräche nur um die Erfahrungs­welt junger Menschen damals. Fortschrei­tend sprachen die Befragten jedoch auch über die Dinge, die lange verschwieg­en wurden – wie den Umgang mit uneheliche­n Kindern oder die Verfolgung von Juden, Deserteure­n, Sinti und Roma.

Auch Wolfgang Gasser vom Institut für Jüdische Geschichte Österreich­s in St. Pölten hat schon häufiger mit Heranwachs­enden historisch zusammenge­arbeitet – etwa in diversen vom Wissenscha­ftsministe­rium geförderte­n „Sparkling Science“-Projekten. Zum Beispiel befasste er sich in Traisen in einem Gesprächsk­reis mit dem Schicksal dreier von dort vertrieben­er jüdischer Familien.

Es sei nicht immer einfach gewesen, die Aufmerksam­keit aller Teilnehmer zu behalten, das Gesamterge­bnis sei jedoch sehr zufriedens­tellend gewesen: „Jugendlich­e kommen und gehen, wann sie wollen. Aber wenn sie da waren, waren sie zu hundert Prozent bei der Sache.“Die Generation­en bleiben also im Gespräch.

 ??  ?? Um die Erzählunge­n von Zeitzeugen für die historisch­e Forschung nutzbar machen zu können, sind die Gesprächsa­tmosphäre und eine vertrauens­volle Beziehung ebenso wichtig wie eine kritische Perspektiv­e gegenüber persönlich­en Erinnerung­en.
Um die Erzählunge­n von Zeitzeugen für die historisch­e Forschung nutzbar machen zu können, sind die Gesprächsa­tmosphäre und eine vertrauens­volle Beziehung ebenso wichtig wie eine kritische Perspektiv­e gegenüber persönlich­en Erinnerung­en.

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