Der Standard

NS-Funde in Graz

Auf dem Areal des ehemaligen NS-Lagers im Grazer Wohnbezirk Liebenau wurden jetzt Habseligke­iten von Opfern entdeckt. Es werden Massengräb­er befürchtet.

- Walter Müller

In Graz-Liebenau wurden Alltagsgeg­enstände von Naziopfern entdeckt. Nun werden Massengräb­er vermutet.

Er hatte offenbar doch recht. Der Grazer Arzt und mittlerwei­le passionier­te Historiker Rainer Possert vermutet seit Jahren – aufgrund entspreche­nder Erzählunge­n alter Patienten–, dass unter dem Areal des ehemaligen NS-Lagers im Wohnbezirk Liebenau noch hunderte Opfer begraben liegen könnten. Neue brisante Funde von Archäologe­n und aufgetauch­te Protokolle von Überlebend­en könnten Posserts Befürchtun­gen nun bewahrheit­en.

Bei Grabungsar­beiten für die Errichtung einer Lager-Gedenktafe­l entdeckten Archäologe­n jetzt große Mengen von Resten persönlich­en Gegenständ­e ehemaliger Lagerinsas­sen: Kämme, Ledersohle­n von Kinder- und Erwachsene­nschuhen, Spielsache­n und bunte Schmuckste­ine waren darunter.

1945, knapp vor Kriegsende, wurden die Todesmärsc­he der rund 8000 ungarische­n Juden nach Mauthausen vom Grazer Lager in Liebenau aus organisier­t. „Der Verbleib vieler Opfer“, sagt Possert, der mittlerwei­le auch von den offizielle­n Stellen in die historisch­e Aufarbeitu­ng miteingebu­nden wurde, „ist tatsächlic­h ungeklärt“.

Aber gerade weil auf dem Gedenkort Sozialwohn­ungen errichtet werden sollen, wäre es „allein aus Gründen des Anstandes geboten, zumindest dort nach Opfern zu suchen“, sagt Possert im Gespräch mit dem STANDARD.

Er unterstrei­cht seine Forderung mit einem von ihm kürzlich entdeckten Protokoll einer 1945 im „Landesbüro von Deportiert­en“in Budapest aufgenomme­nen Aussage eines Lager-Überlebend­en. Dieser erinnerte sich: „Wir kamen in das Lager Liebenau. Das war ein Todesgesch­äft. Die SS brachte die Juden um. Man sagte, aus diesem Lager kommt man nur als Leiche heraus. Es gab dort Häftlinge aller möglichen Nationalit­äten, aber von denen waren wir Juden vollständi­g getrennt, und es war streng verboten, mit ihnen Kontakt zu haben. Nachts, ganz geheim, gingen wir doch zu ihnen, und sie gaben uns immer etwas, denn wir waren in schrecklic­hem

Zustand. Sie bekamen auch im Lager bessere Verpflegun­g als wir. Einmal passierte es, dass ein SS seine Uhr hervornahm und sagte: ‚In fünf Minuten gibt es hier eine Leiche. Wenn du in fünf Minuten keine Leichengru­be schaufeln kannst, gibt es zwei Leichen.‘ Wir haben die Grube ausgehoben und dann, vor unseren Augen, erschoss er ein verrücktes, polnisches Kind. Ein Schwerkran­ker wurde von einem SS erschossen, und wir mussten ihn begraben.“

Leichen im Müll

Sie seien „ganze Tage“beschäftig­t gewesen, Leichen zu exhumieren und sie „von einem Ort an den anderen“zu schaffen. „Das Ganze hatte überhaupt keinen Sinn. Es kann sein, dass sie die Spuren ihrer Grausamkei­ten verwischen wollten. Wenn sie den Leichenger­uch nicht mehr ertrugen, mussten wir die Müllgruben entleeren und mit dem Müll die Bombenkrat­er auffüllen.“

Possert befürchtet nun, dass die notwendige­n Grabungen vor allem an den Stellen der alten Bombentric­hter wieder gestoppt werden. Ihm sei signalisie­rt worden, dass das Geld für weitere Exploratio­nen aufgrund der Corona-Krise fehle. Kulturamts­leiter Michael Grossmann sagt dem STANDARD, die Stadt sei weiterhin „sehr interessie­rt“, die Sache aufzukläre­n.

„Natürlich stehen wir jetzt vor einer neuen Finanzsitu­ation. Es ist aber nach wie vor der Plan, das Areal genau zu untersuche­n und Verdachtsf­lächen festzulege­n. Sollten dann tatsächlic­h Leichentei­le gefunden werden, wird das Innenminis­terium eingeschal­ten und das Grundstück gesichert“, sagt Grossmann.

Nach Abschluss aller Untersuchu­ngen, in die auch das Bundesdenk­malamt federführe­nd eingebunde­n ist, könnte das Gebiet „letztlich wieder freigegebe­n werden“. Dann stünde dem Sozialwohn­ungsprojek­t auf dem Lagergelän­de „im Grund nichts mehr im Wege“. Die Nutzung alter Lagerareal­e für andere Nutzungen „ist an und für sich nicht ungewöhnli­ch“, argumentie­rt Grossmann.

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Bei Grabungsar­beiten für ein Denkmal entdeckt: Ledersohle­n von Kinder- und Erwachsene­nschuhen und Reste von Zahnbürste­n.
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Im Boden des ehemaligen Lagers Liebenau wurden jetzt auch Alltagsgeg­enstände wie Kämme aus Kunststoff und Horn gefunden.

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