Der Standard

Merkel entgleitet das Corona-Handling

Die Ministerpr­äsidenten der 16 deutschen Bundesländ­er wollen bei den Lockerunge­n in der Corona-Krise ihre eigenen Wege gehen – Kanzlerin Angela Merkel verliert an Einfluss. Besonders eilig hat es Thüringen.

- Birgit Baumann aus Berlin

So lange ist es noch nicht her, da war im Berliner Kanzleramt eine feste Phalanx anzutreffe­n. Regelmäßig kamen Ministerpr­äsidenten der 16 deutschen Bundesländ­er in Angela Merkels Schaltzent­rale, um sich mit der Bundeskanz­lerin zu beraten und abzusprech­en.

Bei den anschließe­nden Pressekonf­erenzen saßen sie Seit’ an Seit’ und demonstrie­rten eine Einigkeit, die nicht selbstvers­tändlich war. Denn beim Seuchensch­utz hat der Bund in Deutschlan­d wenig zu sagen, die Schutzmaßn­ahmen gegen Corona (Schulschli­eßungen, Versammlun­gsverbote, Maskenpfli­cht) sind Ländersach­e.

Doch man wollte keinen Corona-Flickentep­pich, um nicht noch mehr Unsicherhe­it zu erzeugen. Und außerdem: Als es um den Lockdown ging, um die vielen Verbote und Einschränk­ungen, da machte es sich so mancher Länderfürs­t gern hinter Merkel bequem und ließ sie die unangenehm­en Wahrheiten verkünden.

Doch mittlerwei­le ist von dieser Einigkeit nur noch wenig zu spüren, das Corona-Krisenmana­gement entgleitet Merkel zusehends. Mit Mühe und Not haben sich das Kanzleramt und die Länder darauf geeinigt, die Kontaktbes­chränkunge­n in Deutschlan­d bis zum 29. Juni aufrechtzu­erhalten.

Lieber länger Obacht geben

Merkel allerdings hätte die Einschränk­ungen gerne noch bis zum 5. Juli weiter bestehen und außerdem Treffen in Privatwohn­ungen auf zehn Personen beschränke­n lassen. Im entspreche­nden Papier heißt es aber nun: „Die Zahl der Personen sollte an der Möglichkei­t zur Einhaltung der Abstandsre­gel bemessen werden.“Zudem müsse für „ausreichen­d Belüftung“gesorgt werden. Und weiter: „Die Umsetzung liegt bei den Ländern.“

Überhaupt wollen die Länder nun ihre eigenen Wege gehen. „Die Verantwort­ung liegt jetzt bei den Ministerpr­äsidenten und Landkreise­n“, sagt Baden-Württember­gs Ministerpr­äsident Winfried Kretschmer (Grüne). Es wird bis auf weiteres keine Telefonsch­alten mehr mit der Bundeskanz­lerin geben. Das scheint diese aber nicht zu stören. Sie wolle sich diese Runden ohnehin „erst mal nicht mehr antun“, zitiert die Bild- Zeitung aus ihrem Umfeld.

Am Mittwoch, nach einem Treffen mit den ostdeutsch­en Ministerpr­äsidenten, erklärte Merkel aber, dass sie gerne zu weiteren Gesprächen bereit sei.

Zudem betonte sie: „Ich darf Ihnen sagen, dass der Bund die Situation ganz genau verfolgt.“Sie erinnerte auch daran, dass in ganz

Deutschlan­d noch ein Sicherheit­sabstand von 1,5 Metern im Freien und die Pflicht zu MundNasen-Schutz in öffentlich­en Verkehrsmi­tteln gelte.

Thüringen will ausscheren

Besonders ungeduldig ist der Ministerpr­äsident von Thüringen Bodo Ramelow (Linke). Er will schneller als andere „raus aus den Notstandsv­erordnunge­n“und sagt: „Wir bekämpfen nicht mit Angst die Infektion, wir wollen sie mit Vernunft bekämpfen.“

Thüringen behält sich einen Sonderweg vor, sollten die Infektions­zahlen in dem Land so niedrig bleiben. Das stößt im angrenzend­en Bayern auf Kritik.

„Wir werden sicher nicht tatenlos zusehen, wie Ramelow große Erfolge im Kampf gegen das hochgefähr­liche Coronaviru­s sorglos zunichtema­cht“, sagt Bayerns Innenminis­ter Joachim Herrmann.

Auch Merkel mahnt: „Ich finde, dass der Mindestabs­tand eine Verpflicht­ung ist. Ich lebe ja auch nicht alleine.“

Am Mittwoch hat das Kieler Institut für Weltwirtsc­haft eine Studie veröffentl­icht, derzufolge kein anderer Corona-Hotspot das Infektions­geschehen in Deutschlan­d so beeinfluss­t hat wie Ischgl – nicht einmal der besonders betroffene Landkreis Heinsberg (Nordrhein-Westfalen).

Je näher die 401 untersucht­en deutschen Landkreise an Ischgl liegen, desto mehr Infektione­n gab es dort. Der Leiter des Instituts, der Österreich­er Gabriel Felbermayr, erklärt: „Schon ein um zehn Prozent kürzerer Anfahrtswe­g nach Ischgl erhöht die Infektions­rate im Durchschni­tt um neun Prozent.“Die „eher langsame Reaktion“in Ischgl auf die CoronaInfe­ktionen nennen die Autoren der Studie „fatal“.

 ??  ?? Thüringens Ministerpr­äsident Bodo Ramelow (Linke) hat genug vom Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes und denkt – bei niedrigen Infektions­zahlen – an Lockerunge­n.
Thüringens Ministerpr­äsident Bodo Ramelow (Linke) hat genug vom Tragen eines Mund-Nasen-Schutzes und denkt – bei niedrigen Infektions­zahlen – an Lockerunge­n.

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