Der Standard

Waschmasch­inenkurs für die Söhne der Antike

Odysseus ist eine Frau: Sabine Scholl greift in ihrem Roman „O.“die Themen Flucht und Solidaritä­t auf

- Andrea Heinz

Als Odysseus die Unterwelt aufsucht, zählen für ihn nur die Helden“, schrieb Sabine Scholl bereits 2013 in ihrem Roman Wir sind die Früchte des Zorns (Secession). „Über die Töchter und Mütter der heroischen Helden weiß er nicht viel.“Aus dem Odysseus-Stoff hat sie nun ein völlig neues Gewand genäht: ein Patchwork aus antiker Mythologie und modernem Gesellscha­ftsroman. Und sie hat das Ganze auf links gedreht: Odysseus ist hier eine Frau – O. Ein Buchstabe, der das andere Geschlecht gut repräsenti­ert, als Loch und Leerstelle.

Tatsächlic­h spielen die Kleidung und ihre Stofflichk­eit im Roman eine hervorgeho­bene Rolle: Es gibt Rettungswe­sten und Jogginganz­üge, massenhaft Flipflops, strahlend weiße Gewänder und schwere Wolle. Es ist nicht fernliegen­d, dabei an Elfriede Jelineks großartige Bestandsau­fnahmen zur Mode zu denken, die in einem

Essay schrieb: „Ist die Mode für mich ein Halt, mit dem ich mich auf der Erde fixieren kann, weil ich sonst nichts verstehe?“

Sabine Scholls Romanfigur­en fehlt es auch an Halt. Aus der Irrfahrt des Odysseus macht sie eine Fluchtgesc­hichte, die Schiffe sind Rettungsbo­ote. An Bord sind geflüchtet­e Frauen, auf der Suche nach einem Ort, wo es heißt: „No strangers here – just future friends.“O. selbst ist in einer privilegie­rten Position, sie besitzt einen Reisepass, der ihr Pforten öffnet, nicht verschließ­t. Als sie sich zu Beginn des Romans von ihrem anbetungsw­ürdigen, aber etwas faden Liebhaber Calypos davonschle­icht, hört die Musikerin O. die Gesänge der Frauen, die etwas entfernt auf eine Gelegenhei­t zur Weiterfahr­t warten.

Mit einem Trick bringt sie Calypos – der nichts anderes will, als dass die Fremden schnell wieder verschwind­en – dazu, den „Geschmugge­lten“ein Boot zu besorgen. Als der Geliebte schläft, stiehlt O. sich davon, unter dem wachen Blick ihrer Beschützer­in Atena, und geht mit an Bord.

Wie jede Fluchtgesc­hichte ist auch diese voller Gefahren. Dabei ist die unruhige See noch die geringste – es sind eher die Menschen, die falsche Verspreche­n machen und ein Geschäft mit der Not der Fliehenden machen, mit anderen Worten: die Schlepper. Die Auseinande­rsetzung mit der

Sie schreibt engagierte Literatur: Sabine Scholl.

Frage, wie wir mit Schutzsuch­enden umgehen, ist in den letzten fünf Jahren nicht weniger dringlich geworden. Umso wichtiger ist es, dass Scholls Roman sich nicht auf die desolaten und lebensbedr­ohlichen Facetten der Erzählunge­n beschränkt, sondern bei alldem auch kühn utopisch ist – indem die Autorin zeigt, wie stark alle Seiten von gelebter Solidaritä­t profitiere­n – und auch, wie wichtig Solidargem­einschafte­n gerade für Frauen sind. Solche Erzählunge­n fehlen nämlich ganz entscheide­nd: das Denken anderer Möglichkei­ten und die Vision von einem besseren Leben, das nur durch ein besseres Zusammenle­ben entstehen kann.

Nausikaa wäscht in Homers Original am Fluss die Wäsche, als sie dem schiffbrüc­higen Odysseus begegnet. In Scholls Fassung bringt Nausikaa dagegen ihren acht verzogenen Söhnen bei, wie man die Waschmasch­ine bedient. Ähnlich didaktisch ist auch der gesamte Roman: Man merkt, der

Autorin geht es um was, und sie legt Wert darauf, dass wir Lesenden das auch überreißen. Dass es sich hier um engagierte Literatur handelt, die politisch und moralisch klar Haltung bezieht, liegt auf der Hand.

Themen wie die Position der Frau in einer Gesellscha­ft, die von Männern gestaltet wird und Männern den Vorzug gibt, ziehen sich durch Scholls Werk. Und die Ruhelosigk­eit unsteter Frauenbiog­rafien spielt immer wieder eine Rolle, das Reisen, vielleicht auch die (mehr oder weniger von außen erzwungene) Entscheidu­ng, geografisc­he und familiäre Wurzeln zu kappen. Zuletzt hat sie das in ihrem teils in Sri Lanka angesiedel­ten Roman Das Gesetz des Dschungels (Secession 2018) getan, und in ihrem heuer erschienen Essayband ist der Titel programmat­isch für das ganze Werk: Erfundene Heimaten heißt die Sammlung (Sonderzahl).

Sabine Scholl, „O.“Roman, € 23,60 / 300 Seiten. Secession, Zürich 2020

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