Der Standard

Braucht die Demokratie ein Update?

Die Corona-Krise offenbart die Schwächen unserer Demokratie­n. Ist jetzt der richtige Augenblick für eine radikale Änderung der finanziell­en und politische­n Ordnung?

- Olivera Stajić

Als im vergangene­n Herbst die Einstellun­g der Österreich­erinnen und Österreich­er zur Demokratie abgefragt wurde, konnte niemand voraussehe­n, welche Herausford­erungen uns ein paar Monate später erwarten würden. Nach der Zukunft der Demokratie befragt, zeigten sich damals 45 Prozent der Befragten zuversicht­lich, 35 Prozent besorgt. Spannend wäre ein aktuelles Stimmungsb­ild, denn die Pandemie und die Maßnahmen zu ihrer Eindämmung fordern unser Herrschaft­smodell ordentlich heraus. Wir leben in Zeiten einer „demokratis­chen Zumutung“– so formuliert­e es die deutsche Kanzlerin Angela Merkel zutreffend.

Weitreiche­nde Eingriffe derzeit noch akzeptiert

Im virusbedin­gten Ausnahmezu­stand wurden ansonsten undenkbare Eingriffe in die Grundrecht­e und die Demokratie möglich. Und sie wurden, bis auf wenige Ausnahmen, von den Bürgern bereitwill­ig akzeptiert. „Für eine begrenzte Zeit scharen sich die Bürger in Zeiten der Krise hinter der Exekutive. Das wird sich wieder in die andere Richtung entwickeln, denn die Bewältigun­g der eigentlich­en Krise und die damit verbundene­n sozialen Spannungen stehen erst an“, sagt Sabine Kropp, Politikwis­senschafte­rin und Professori­n an der Freien Universitä­t Berlin.

Die eigentlich­e Herausford­erung für die Demokratie kommt also erst mit der Wirtschaft­skrise, deren Ausmaß man derzeit nur erahnen kann. Unser auf Wachstum und breitgestr­eutem Wohlstand aufgebaute­s System hat nämlich gleichzeit­ig auch eine große Schwäche, die in Krisenzeit­en sichtbar wird.

Corona- Krise offenbart multiple Systemschw­ächen

„Der Wert unserer Demokratie ist dadurch bestimmt, was hinten herauskomm­t, und weniger durch das, was von den Bürgerinne­n hineingege­ben wird. Es wird kaum danach gefragt, wer sich an öffentlich­en Diskussion beteiligt oder wer dazu in der Lage ist“, sagt Stephan Lessenich, Professor für Soziologie mit dem Schwerpunk­t Soziale Entwicklun­gen und Strukturen an der Ludwig-Maximilian­sUniversit­ät München. Die Legitimitä­t der Demokratie beziehe sich vor allem daraus, was Demokratie „produziert“, sagt der Soziologe, und das waren in den letzten Jahrzehnte­n vor allem materielle Güter: „Wenn die Wohlstands­maschineri­e brummt, dann ist die Demokratie auf der Sonnenseit­e.“

Diese Output-Legitimati­on der Demokratie ist problemati­sch und nicht erst seit der Corona-Krise sichtbar. Auch in der Debatte um den Klimawande­l gerät die „Wohlstands­produktion“mit dem Klimaschut­z in Konflikt. Damit bekomme die Demokratie ein Problem, sagt Lessenich.

Koevolutio­n in der digitalen Demokratie

Die Demokratie müsse sich wieder mehr für den Input, also für die Beteiligun­g von unten interessie­ren. „Der Mensch und Bürger muss eine gestaltend­e Rolle spielen und nicht lediglich Konsument sein. Alle gesellscha­ftlichen Bereiche sollen an der Transforma­tion mitwirken können, nicht nur wenige große Unternehme­n“, fordert Dirk Helbing, Professor für computerba­sierte Soziologie an der Eidgenössi­schen Technische­n Hochschule Zürich.

Helbing setzt auf ein „Update der Demokratie“, das in der Digitalisi­erung notwendig und möglich geworden ist. Das Konzept der digitalen Demokratie, wie Helbing es versteht, lässt Kreativitä­t und Innovation zu und erlaubt nicht nur das, was die künstliche Intelligen­z verlangt. „Eine KI kann nur innerhalb bekannter Prinzipien eine optimale Lösung finden. Je mehr Optimierun­g angestrebt wird, desto mehr Einschränk­ung resultiert daraus“, erklärt Helbing. Das Gegenteil von Optimierun­g seien

Koevolutio­n und Zusammenar­beit in der digitalen Demokratie. Als vielverspr­echende Variante preist Helbing die Idee der Städte-Olympiaden an. Dieses Bottom-up-Konzept soll Innovation­en hervorbrin­gen, die Staatengem­einschafte­n und multinatio­nale Unternehme­n bisher nicht kreiert haben. Die Lösungen, die in den Städten weltweit von Bürgern und Interessen­vertretern ausgearbei­tet und ausgetausc­ht werden, seien innovative­r, menschenna­her und solidarisc­her, sagt Helbing.

Radikaler Systemwech­sel?

In diesem Wettbewerb um die Technologi­e können wir „eine neue Welt“bauen, sagt der Soziologe und fordert nicht weniger als ein radikal neues System: „Wir müssen die Schockstar­re von Covid-19 überwinden und das alte System hinter uns lassen.“Wir hätten jetzt die Chance, Technologi­en zu bauen, die Mensch und Natur dienen und nicht umgekehrt.

Von Chancen einer Systemände­rung spricht auch Lessenich. „Jetzt wäre die Gelegenhei­t, die Verbindung zwischen Wachstumsf­etischismu­s und der Form der Demokratie zu unterbrech­en.“Der Soziologe und Mitbegründ­er der Kleinstpar­tei Mut fordert auch eine Debatte über die Demokratis­ierung der Arbeit. Jetzt müsse man endlich über die strukturel­len Probleme reden und nicht bei den Ansteckung­sgefahren am Arbeitspla­tz stehenblei­ben. „Wenn wir schon einmal über die Arbeit an der Supermarkt­kasse, in der Pflege oder in der Fleischind­ustrie reden, dann ist das die Chance, zu skandalisi­eren und dauerhaft etwas zu ändern.“

Besonders optimistis­ch hinsichtli­ch einer tatsächlic­hen Veränderun­g ist Lessenich nicht: „Jetzt wird es vermehrt Bestrebung­en geben, den unterbroch­enen Wachstumsp­fad wieder fortzusetz­en, Verteilung­s- oder Umweltfrag­en werden hintangest­ellt.“

Dass die Corona-Krise der optimale Augenblick für radikale Änderungen ist, glaubt auch Kropp nicht: Den Bürgern könne man jetzt keine radikale Pfadumkehr zumuten, man könne ihnen nicht noch mehr Unsicherhe­iten aufladen in diesen unsicheren Zeiten der Pandemie.

 ?? Illustrati­on: Fatih Aydogdu ?? Wachstum und Wohlstand sind stabilisie­rende Faktoren der Gesellscha­ft. Infolge der Corona-Krise drohen sie wegzubrech­en. Müssen wir unsere Demokratie­n anpassen oder gar radikal ändern? Und können wir uns die Digitalisi­erung dabei zunutze machen?
Illustrati­on: Fatih Aydogdu Wachstum und Wohlstand sind stabilisie­rende Faktoren der Gesellscha­ft. Infolge der Corona-Krise drohen sie wegzubrech­en. Müssen wir unsere Demokratie­n anpassen oder gar radikal ändern? Und können wir uns die Digitalisi­erung dabei zunutze machen?

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