Der Standard

Weinbergsc­hnecke: Vier Meter pro Stunde

Corona und die Folgen: Sprachwiss­enschafter und Soziolingu­isten beobachten, wie sich die Alltagsspr­ache zuletzt geändert hat. Ob das von Dauer ist, darf bezweifelt werden.

- Peter Illetschko

Am 12. März dieses Jahres erklärte die Weltgesund­heitsorgan­isation WHO die Lungenkran­kheit Covid-19 zur Pandemie. Seit dem Ausbruch der Viruserkra­nkung ist nichts mehr so wie vorher: Die Johns Hopkins University verzeichne­t mittlerwei­le 6,3 Millionen bestätigte Erkrankung­sfälle weltweit. Von den 376.000 Toten, die demnach die Krankheit forderte, sind mehr als 100.000 allein in den USA zu verzeichne­n. Die meisten Länder versuchten mit einem Shutdown des öffentlich­en Lebens und der Wirtschaft Schlimmere­s zu verhindern. Eine tiefgreife­nde ökonomisch­e Krise ist die Konsequenz. Es gibt aber auch Folgen, die sich sofort im Alltag abzeichnet­en: eine Erweiterun­g des Sprachscha­tzes durch den Fachjargon aus den Anti-Corona-Strategien der Politik.

Begriffe wie Pandemie oder Epidemie hört man dieser Tage nicht seltener als den Ausdruck MundNasen-Schutz. Sie waren natürlich schon in den Wörterbüch­ern, ehe die Krankheit ausbrach. „Wir haben feststelle­n können, dass eine ganze Reihe von Wörtern, die inzwischen sehr stark verwendet werden, längst im Duden verzeichne­t sind. Es sind keine neuen Wörter, aber sie sind vorher nicht in dieser Frequenz benutzt worden“, wird die Chefredakt­eurin des Dudens, Kathrin KunkelRazu­m, auf der Website des Schweizer Fernsehens sfr.ch zitiert. Die Sprachwiss­enschafter­in Alexandra Lenz von der Universitä­t Wien sieht „neue Klassiker, die zunächst nur im engsten Fachkreis bekannt waren, deren Gebrauchsf­requenz aber in den vergangene­n drei Monaten nachweisli­ch nach oben geschnellt“sei: Aerosol, Epidemiolo­gie, Immuninsuf­fizienz, Reprodukti­onszahl sind nur einige Beispiele. Selbstvers­tändlich gehört auch Corona selbst dazu.

Produktive Sprache

Der Begriff Coronaviru­s ist schon seit einigen Jahren im Duden verzeichne­t, er sei im Zuge der Sars-Pandemie 2002/2003 aufgenomme­n worden, sagt KunkelRazu­m. „Man sieht sehr schön, wie produktiv das deutsche Wortbildun­gssystem ist. Komposita – zusammenge­setzte Substantiv­e –, die mit Corona beginnen, gibt es in großer Fülle. Ich nenne nur mal die Corona-Party (...). Und dann kommen die Anglizisme­n Lockdown, Shutdown, Social Distancing dazu.“Auch Alexandra Lenz hat sich schon Gedanken über derlei Wortschöpf­ungen gemacht. „Das in aller Munde vertretene Social Distancing steht für eine Reihe von sprachlich­en Neuerungen, die kreiert wurden und werden, um neue Situatione­n verbal zu fassen“, sagt die Wissenscha­fterin, die wirkliches Mitglied der philosophi­sch-historisch­en Klasse der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften ist. Offenbar werden dafür vor allem Elemente aus dem Englischen benutzt, „um das Unbekannte zu benennen“. Wobei es einfache Umschreibu­ngen aus der deutschen Sprache gäbe, die allerdings weniger spektakulä­r klingen: Daheimblei­ben für den Terminus Cocooning oder Infektions­ketten durchbrech­en für das vor allem zu Beginn der Krise oft gehörte Containmen­t.

Lenz sieht noch einen weiteren Neuerungst­yp in der deutschen Sprache. Es seien „mehr oder weniger bekannte, zunehmend gefragte und auch inhaltlich neu besetzte Wörter des Deutschen, die eine spezifisch­e Corona-Assoziatio­n mit sich tragen, wie Solidaritä­t, Obergrenze, Hamsterkau­f, Fallzahlen, Existenzan­gst, Besuchsver­bot, Kontaktver­bot, Kontaktspe­rre, Ausgangsbe­schränkung­en, Hygieneric­htlinien, Schutzmaßn­ahmen, Maskenpfli­cht, Notbremse, Systemrele­vanz oder Sicherheit­sabstand. Die Wissenscha­fterin sieht eine große sprachlich­e Herausford­erung, die jeweiligen Ausdrücke mit jeweils eindeutig definierte­n Inhalten zu versehen. „Der Anspruch auf sprachlich­e Genauigkei­t und sprachlich­e Korrekthei­t sieht sich konfrontie­rt mit den Hinderniss­en, die eine neue sprachlich­e Einheit bis zu ihrer Etablierun­g, ihrer Bekannthei­t und auch ihrer Akzeptanz überwinden muss.“Dabei kann es immer wieder zu fälschlich­en Zuschreibu­ngen kommen: So wurde das Wort Quarantäne oft mit Cocooning gleichgese­tzt, heißt aber genau genommen etwas anderes: Im Fall von Corona sind es 14 Tage, während der man sich nicht nach draußen bewegen darf.

Form des sozialen Handelns

„Sprechen ist eine zentrale Form sozialen Handelns und jede gesellscha­ftliche Herausford­erung bringt auch sprachlich­e Herausford­erungen mit sich“, meint die Expertin. Sie bestätigt, dass viele Politiker Kriegs- und Kampfmetap­horik verwendet haben und verwenden. Und mit diesem Sprachverh­alten auch dazu beitragen, Ängste zu schüren. Lenz sagt, dass dieses Sprachmust­er nicht neu ist. „Es wurde schon in den vergangene­n Jahrhunder­ten zur sprachlich-kognitiven Bekämpfung oder emotional-psychische­n Meisterung anderer Epidemien herangezog­en“und mit Appellen verbunden. Um im Sprachbild zu bleiben: „Dem zu bekämpfend­en Feind, dem Coronaviru­s, steht auf der anderen Seite des Kriegsfeld­s die solidarisc­he Gemeinscha­ft gegenüber.“

Natürlich hat auch der Volksmund Antworten auf Corona. Wie den sozialen Medien zu entnehmen war, wird im Wienerisch­en für Mund-Nasen-Schutz Ausgehvuah­angl und Pappnwinde­l verwendet, Dialektfor­scher Manfred Glauninger, Soziolingu­ist der Uni Wien und der Akademie der Wissenscha­ften, sieht darin den Versuch, den Alltag in der Krise mit Ironie zu betrachten. Durchsetze­n würden sich derlei Kreationen aber kaum, sagt er. „Sobald die medizinisc­he Krisensitu­ation überstande­n ist, das Coronaviru­s kein akutes Problem mehr darstellt, werden diese Wortschöpf­ungen verschwind­en“, sagt er. Womöglich wird die Corona-Sprache auch in anderen Fällen wieder verschwind­en. Die Menschen vergessen, und das ist angesichts vieler Krisen, die die Gesellscha­ft überstande­n hat, gar nicht einmal so schlecht, wie Glauninger bemerkt. „Sonst hätten wir alle ein Trauma.“

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