Weinbergschnecke: Vier Meter pro Stunde
Corona und die Folgen: Sprachwissenschafter und Soziolinguisten beobachten, wie sich die Alltagssprache zuletzt geändert hat. Ob das von Dauer ist, darf bezweifelt werden.
Am 12. März dieses Jahres erklärte die Weltgesundheitsorganisation WHO die Lungenkrankheit Covid-19 zur Pandemie. Seit dem Ausbruch der Viruserkrankung ist nichts mehr so wie vorher: Die Johns Hopkins University verzeichnet mittlerweile 6,3 Millionen bestätigte Erkrankungsfälle weltweit. Von den 376.000 Toten, die demnach die Krankheit forderte, sind mehr als 100.000 allein in den USA zu verzeichnen. Die meisten Länder versuchten mit einem Shutdown des öffentlichen Lebens und der Wirtschaft Schlimmeres zu verhindern. Eine tiefgreifende ökonomische Krise ist die Konsequenz. Es gibt aber auch Folgen, die sich sofort im Alltag abzeichneten: eine Erweiterung des Sprachschatzes durch den Fachjargon aus den Anti-Corona-Strategien der Politik.
Begriffe wie Pandemie oder Epidemie hört man dieser Tage nicht seltener als den Ausdruck MundNasen-Schutz. Sie waren natürlich schon in den Wörterbüchern, ehe die Krankheit ausbrach. „Wir haben feststellen können, dass eine ganze Reihe von Wörtern, die inzwischen sehr stark verwendet werden, längst im Duden verzeichnet sind. Es sind keine neuen Wörter, aber sie sind vorher nicht in dieser Frequenz benutzt worden“, wird die Chefredakteurin des Dudens, Kathrin KunkelRazum, auf der Website des Schweizer Fernsehens sfr.ch zitiert. Die Sprachwissenschafterin Alexandra Lenz von der Universität Wien sieht „neue Klassiker, die zunächst nur im engsten Fachkreis bekannt waren, deren Gebrauchsfrequenz aber in den vergangenen drei Monaten nachweislich nach oben geschnellt“sei: Aerosol, Epidemiologie, Immuninsuffizienz, Reproduktionszahl sind nur einige Beispiele. Selbstverständlich gehört auch Corona selbst dazu.
Produktive Sprache
Der Begriff Coronavirus ist schon seit einigen Jahren im Duden verzeichnet, er sei im Zuge der Sars-Pandemie 2002/2003 aufgenommen worden, sagt KunkelRazum. „Man sieht sehr schön, wie produktiv das deutsche Wortbildungssystem ist. Komposita – zusammengesetzte Substantive –, die mit Corona beginnen, gibt es in großer Fülle. Ich nenne nur mal die Corona-Party (...). Und dann kommen die Anglizismen Lockdown, Shutdown, Social Distancing dazu.“Auch Alexandra Lenz hat sich schon Gedanken über derlei Wortschöpfungen gemacht. „Das in aller Munde vertretene Social Distancing steht für eine Reihe von sprachlichen Neuerungen, die kreiert wurden und werden, um neue Situationen verbal zu fassen“, sagt die Wissenschafterin, die wirkliches Mitglied der philosophisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften ist. Offenbar werden dafür vor allem Elemente aus dem Englischen benutzt, „um das Unbekannte zu benennen“. Wobei es einfache Umschreibungen aus der deutschen Sprache gäbe, die allerdings weniger spektakulär klingen: Daheimbleiben für den Terminus Cocooning oder Infektionsketten durchbrechen für das vor allem zu Beginn der Krise oft gehörte Containment.
Lenz sieht noch einen weiteren Neuerungstyp in der deutschen Sprache. Es seien „mehr oder weniger bekannte, zunehmend gefragte und auch inhaltlich neu besetzte Wörter des Deutschen, die eine spezifische Corona-Assoziation mit sich tragen, wie Solidarität, Obergrenze, Hamsterkauf, Fallzahlen, Existenzangst, Besuchsverbot, Kontaktverbot, Kontaktsperre, Ausgangsbeschränkungen, Hygienerichtlinien, Schutzmaßnahmen, Maskenpflicht, Notbremse, Systemrelevanz oder Sicherheitsabstand. Die Wissenschafterin sieht eine große sprachliche Herausforderung, die jeweiligen Ausdrücke mit jeweils eindeutig definierten Inhalten zu versehen. „Der Anspruch auf sprachliche Genauigkeit und sprachliche Korrektheit sieht sich konfrontiert mit den Hindernissen, die eine neue sprachliche Einheit bis zu ihrer Etablierung, ihrer Bekanntheit und auch ihrer Akzeptanz überwinden muss.“Dabei kann es immer wieder zu fälschlichen Zuschreibungen kommen: So wurde das Wort Quarantäne oft mit Cocooning gleichgesetzt, heißt aber genau genommen etwas anderes: Im Fall von Corona sind es 14 Tage, während der man sich nicht nach draußen bewegen darf.
Form des sozialen Handelns
„Sprechen ist eine zentrale Form sozialen Handelns und jede gesellschaftliche Herausforderung bringt auch sprachliche Herausforderungen mit sich“, meint die Expertin. Sie bestätigt, dass viele Politiker Kriegs- und Kampfmetaphorik verwendet haben und verwenden. Und mit diesem Sprachverhalten auch dazu beitragen, Ängste zu schüren. Lenz sagt, dass dieses Sprachmuster nicht neu ist. „Es wurde schon in den vergangenen Jahrhunderten zur sprachlich-kognitiven Bekämpfung oder emotional-psychischen Meisterung anderer Epidemien herangezogen“und mit Appellen verbunden. Um im Sprachbild zu bleiben: „Dem zu bekämpfenden Feind, dem Coronavirus, steht auf der anderen Seite des Kriegsfelds die solidarische Gemeinschaft gegenüber.“
Natürlich hat auch der Volksmund Antworten auf Corona. Wie den sozialen Medien zu entnehmen war, wird im Wienerischen für Mund-Nasen-Schutz Ausgehvuahangl und Pappnwindel verwendet, Dialektforscher Manfred Glauninger, Soziolinguist der Uni Wien und der Akademie der Wissenschaften, sieht darin den Versuch, den Alltag in der Krise mit Ironie zu betrachten. Durchsetzen würden sich derlei Kreationen aber kaum, sagt er. „Sobald die medizinische Krisensituation überstanden ist, das Coronavirus kein akutes Problem mehr darstellt, werden diese Wortschöpfungen verschwinden“, sagt er. Womöglich wird die Corona-Sprache auch in anderen Fällen wieder verschwinden. Die Menschen vergessen, und das ist angesichts vieler Krisen, die die Gesellschaft überstanden hat, gar nicht einmal so schlecht, wie Glauninger bemerkt. „Sonst hätten wir alle ein Trauma.“