Wie Corona-Disziplin auch ohne Verbote geht
Vorschriften zehren auf Dauer an den Nerven. Verhaltensökonomen plädieren daher für sanftere Anreize. Damit kann die Politik das soziale Leben nachhaltig hochfahren.
Neuer Himmel, neue Erde bedeutet der Name der christlichen Sekte Shincheonji in Südkorea. Ihre Mitglieder sehnen sich nach dem Tag des Jüngsten Gerichts, an dem die Auserwählten unter ihnen in den Himmel kommen. Als am 18. Februar eine an Covid-19 erkrankte Frau an einem Gottesdienst teilnimmt, steckt sie fast 40 Menschen an. Die Kirche kooperiert kaum mit den Behörden, viele verweigern Tests. Binnen zweier Wochen steigt die Zahl der Corona-Fälle in dem ostasiatischen Land von 30 auf über 4000.
Anders als in den meisten Staaten hat Südkorea angesichts der Corona-Pandemie keinen Lockdown verordnet und setzt stattdessen auf Tests und Nachverfolgung. Das macht die Gesellschaft zwar anfällig für solche Superspreading-Events, bei denen einzelne Patienten sehr viele Neuinfektionen auslösen, aber insgesamt hat Südkorea bisher das Virus besser im Griff als fast jedes andere Land. Der Schlüssel liegt in der starken Kooperation der Mehrheit der Bürger und den umfangreichen Tests, deren Resultate überall geteilt werden.
Regeln werden zu neuer Norm
Länder, die wie Österreich aus dem Lockdown kommen, stellen sich nun die Frage, wie sie das Virus eindämmen, aber gleichzeitig das soziale Leben ermöglichen können. Damit das wie in Südkorea ohne Zwang klappt, muss sich die Bevölkerung freiwillig an Regeln halten. Verhaltensökonomen beschäftigen sich seit langem mit der Frage, warum Menschen kooperieren.
Ein wichtiger Faktor ist, dass eine Regel wie das Tragen der Maske oder das Einhalten des Abstands zu einer Norm wird, was gewöhnlich längere Zeit braucht. Die Corona-Regeln seien aber sehr schnell zu sozialen Normen geworden, erklärt Rudolf Kerschbamer, Wirtschaftsprofessor an der Universität Innsbruck. Die Menschen halten sich daran, weil es sozialen Druck gibt. Wer ausschere, werde teils schief angeschaut, sagt der Verhaltensökonom. Dass soziale Normen entstehen, hat mit Erwartungen zu tun. „Zum einen mit Erwartungen darüber, wie stark andere sich an die Normen halten, zum anderen auch mit Erwartungen darüber, wie stark Abweichungen von der Norm von Mitmenschen sanktioniert werden“, so Kerschbamer. Ein Beispiel: Wenn ich erwarte, dass alle rechts fahren, sollte auch ich rechts fahren – sonst kracht’s. Social Distancing wurde aber so rasch zur Norm, weil die Menschen Angst vor dem Virus haben. In manchen Ländern wegen der Infektionszahlen, in Österreich wegen der Rhetorik des Kanzlers, so der Ökonom.
Mit der Angst ist es dank stark gesunkener Fallzahlen zum Glück vorbei. Ohnehin: „Kooperatives Verhalten, das auf Angst aufbaut, bricht extrem schnell wieder zusammen“, sagt Gerhard Fehr. Der Unternehmensberater tauscht sich mit IHS-Chef Martin Kocher in einer Diskussionsreihe des Vienna Behavioral Economics Network darüber aus, wie ihre Disziplin in der Krise helfen kann. „Der Markt hat keine Lösung für die erste Phase, den Lockdown, aber extrem viele für die zweite“, sagt Fehr. Der Schlüssel sei, zu experimentieren. Vorgaben wie eine Kundenzahl pro Quadratmeter oder die Abstandsregel sind besser als rigide Auflagen, wer wann aufsperren darf, lautet das Argument. Dann können Unternehmer ausprobieren, wie sie das im Betrieb am besten umsetzen.
Wie es gelingt, dass Regeln funktionieren, hängt davon ab, warum sie überhaupt gebrochen werden, meint Kocher. Sei es Unwissen, mangelnde Disziplin oder Absicht – „je nachdem, was die Ursache ist, gibt es verhaltensökonomische Instrumente, wie man Regeln durchsetzen kann und auch soll“, sagt Kocher (siehe Kästen).
Ein Manko an der jetzigen Politik sehen die Verhaltensökonomen im Mangel an Informationen. Ohne gute Daten lasse sich nur schwer experimentieren, welche Maßnahmen wirken. Darum haben Fehr und Kocher mit Kollegen die Plattform testtheworld.org gegründet. Ihre Forderung: regelmäßig große Stichproben an Corona-Tests sammeln und veröffentlichen, statt nur bestimmte Gruppen zu untersuchen. Ansonsten steuert die Gesellschaft im Blindflug einer möglichen zweiten Welle entgegen, ohne zu wissen, was sie ausgelöst hat.