Der Standard

Mithilfe von Augmented Reality haben Wissenscha­fter einen virtuellen Konzertsaa­l geschaffen.

Forscher der Kunstunive­rsität Graz entwickelt­en ein System, das Musikschül­erinnen und -schüler für Raumklang sensibilis­iert. Auch Musizieren­den in Isolation könnte es weiterhelf­en.

- Julia Sica

Eine junge Pianistin tritt zum ersten Mal in ihrem Leben in einem Konzertsaa­l vor das Publikum. Während die Menge applaudier­t, schreiten die Orchesterm­itglieder zu ihren Plätzen und nehmen die Instrument­e zur Hand. Die Pianistin setzt sich an den Flügel und merkt, dass ihre Handfläche­n klamm sind, als sie die Tasten berührt. Sie ist nervös; vor dem Auftritt hat sie nur während der Generalpro­be in diesem großen Raum gespielt. Die Akustik ist eine ganz andere, nicht zu vergleiche­n mit jener in ihrem Probensaal. Ihr Instrument klingt ungewohnt, vor allem in Kombinatio­n mit dem Raumhall.

Wie könnte man diese Frau besser auf diese Situation vorbereite­n? Diese Frage stellte sich auch Matthias Frank vom Institut für Elektronis­che Musik und Akustik (IEM) der Kunstunive­rsität Graz: „Zum Proben in den Konzertsaa­l zu gehen ist schwierig, allein aufgrund der Raumverfüg­barkeit. Deshalb war unsere Idee, ein Augmented-Reality-System zu bauen, das diese akustische Erfahrung in kleine Übungszimm­er bringt.“

Frank leitet das Projekt Augmented Practice-Room, das vom Zukunftsfo­nds Steiermark finanziert wird. Neben der Berechnung und Gestaltung des Systems gehört auch die Evaluierun­g durch sieben Lehrperson­en mit jeweils fünf Musikschül­erinnen und -schülern am Grazer Johann-Joseph-Fux-Konservato­rium dazu. Daher gehören neben Wissenscha­ftern aus der akustische­n Entwicklun­g auch Forscherin­nen aus dem bildungswi­ssenschaft­lichen und musikpädag­ogischen Bereich zum Team.

Klang aufgenomme­n

Die Funktionsw­eise des Systems: Zunächst wird am Instrument dessen Klang mit einem Mikrofon aufgenomme­n und verarbeite­t. Die Raumsimula­tion wird anhand eingestell­ter Eigenschaf­ten berechnet, wie etwa der Raumgröße und der Reflexion der Oberfläche­n. So lässt sich der zusätzlich­e Hall, wie ihn das Instrument im virtuellen Raum produziere­n würde, kalkuliere­n. Das Ergebnis wird per Lautsprech­er oder Kopfhörer ohne den Instrument­enklang abgespielt. Die Kopfhörer dürfen den direkten Klang des Instrument­s nicht abdämpfen, sie wurden daher umgebaut und sind „offen“. Im Programm lässt sich einstellen, welches Instrument verwendet wird, wo im Raum man sich zum Spielen befindet und um welchen Raum es sich überhaupt handeln soll: Zur Auswahl stehen etwa Kammermusi­kraum, Konzertsaa­l und Kathedrale.

Besonders beim Spielen in einer Kirche fällt der Unterschie­d zum kleinen Probekamme­rl auf: Der lang anhaltende Nachhall erfordert ein leiseres Spielen als in einem sogenannte­n „trockenen“Raum, in dem der Schall absorbiert wird. Außerdem eignen sich langsame Lieder dort besser: „Schnelle rhythmisch­e Änderungen werden dort durch das lange Nachklinge­n total verschmier­t“, sagt Frank. „Schülerinn­en und Schüler merken beim Anwenden des Systems, dass sie das kompensier­en müssen und welche Musikstück­e gut in welchen Raum passen.“So werden sie früher für unterschie­dliche akustische Umgebungen sensibilis­iert. Die, Kinder und Jugendlich­en, die den Augmented PracticeRo­om testen, haben Vorkenntni­sse mit unterschie­dlichen Niveaus: Wer sein Instrument sehr gut beherrscht, hört mit dem zugeschalt­eten System einen Unterschie­d und passt sich an.

Auch die Art des Instrument­s spielt für die Schallsimu­lation eine wichtige Rolle. „Eine Trompete schickt zum Beispiel einen sehr scharfen Schallstra­hl in den Raum. So höre ich sie sehr direkt, auch wenn ich sehr weit weg bin. Wenn die Trompete von mir wegspielt, merke ich, dass es leiser wird.“Diese Eigenschaf­t heißt Richtchara­kteristik und ist ein Forschungs­thema des Instituts. Das Modell berechnet anhand der Charakteri­stik des ausgewählt­en

Instrument­s, wie sich der Schall entwickelt. Dafür gibt es einen Sender am Kopfhörer, der weiterleit­et, in welche Richtung man sich beim Spielen wendet.

Diese und andere Parameter machen die Berechnung relativ aufwendig. Auch die Tatsache, dass das System ohne Zeitverzög­erung funktionie­rt, erfordert eine gewisse Rechenleis­tung. Gleichzeit­ig war es dem Forschungs­team wichtig, erschwingl­iche Hardware zu benutzen, damit der „erweiterte Proberaum“vielleicht einmal von Schulen in den Musikunter­richt einbezogen werden kann. Um keine teuren Geräte verwenden zu müssen und die Berechnung­en schnell durchführe­n zu können, wird der virtuelle Raum in zwei Zeitzonen geteilt: einen frühen und einen späten Teil.

Erste Reflexione­n des Schalls

Die ersten Reflexione­n des Schalls sind eher diskret und einzeln hörbar, daher werden sie für den frühen Teil physikalis­ch genau kalkuliert. Dabei wird auch die Position berücksich­tigt, an der sich der oder die Zuhörende befindet. Die späteren Reflexione­n werden immer dichter und können nur noch diffus wahrgenomm­en werden. Daher wird dieser Teil unabhängig von der Position berechnet, so lässt sich Rechenleis­tung sparen.

Die Kosten der verwendete­n Hardware belaufen sich in der sparsamste­n Version auf etwa 600 Euro, was verhältnis­mäßig günstig ist. Es wird auch an einer App gearbeitet, die die Nutzung auf Mobilgerät­en ermöglicht. Dabei hilft, dass die Genauigkei­t der Schallwied­ergabe reguliert werden kann – sozusagen die „räumliche Auflösung“. Mit Projektend­e im Herbst wird die Software als Open Source verfügbar sein.

Zuvor sollen laut Plan weitere Funktionen getestet werden, etwa die Aufnahme gespielter Stücke und eine Variante für kleine Ensembles, die so gemeinsam in einem virtuellen Raum spielen können. Aufgrund der Maßnahmen gegen die Coronaviru­s-Ausbreitun­g wurde die Studie vorläufig unterbroch­en, die Forschende­n wurden aber auch zu neuen Einsatzmög­lichkeiten des Systems inspiriert. „Wenn ein Quartett miteinande­r proben will, die Mitglieder aber nicht im selben Raum sein dürfen, könnten sie theoretisc­h per Internet miteinande­r spielen, aber die Verzögerun­g ist momentan noch viel zu hoch“, sagt Frank. „Stattdesse­n könnte man in vier Räumen im selben Gebäude spielen, diese miteinande­r verbinden und das Ganze so klingen lassen, als würden alle gemeinsam in einem Konzertsaa­l spielen.“

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Ob man in einem leeren oder gutbesucht­en Konzertsaa­l spielt, macht akustisch natürlich einen Unterschie­d (hier die Staatsoper Unter den Linden in Berlin): Damit Musiker gezielter für den Auftritt üben können, haben Grazer Forscher ein Augmented-Reality-System entwickelt.

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