Der Standard

Wogegen ein Kraut gewachsen ist

An der Universitä­t Wien widmet man sich anhand historisch­er Unterlagen den Pflanzen in der Volksmediz­in. Könnte auch eine Heilpflanz­e gefunden werden, die im Kampf gegen Corona einsetzbar ist?

- Susanne Strnadl

Schwere Infektione­n der Atemwege gibt es schon seit Menschenge­denken – sie werden von unterschie­dlichen Viren und Bakterien ausgelöst, und diese wurden schon bekämpft, lange bevor es Impfungen und Antibiotik­a gab. An der Universitä­t Wien kombiniert man nun traditione­lles Wissen aus alten Schriften mit hochmodern­en Methoden, um mögliche neue Wirkstoffe gegen diese Plagen zu finden.

Judith Rollinger vom Department für Pharmakogn­osie der Universitä­t Wien arbeitet seit rund 15 Jahren auf dem Gebiet der Ethnopharm­akologie, eines Forschungs­zweigs, der sich mit der Verwendung von Pflanzen in der Volksmediz­in beschäftig­t. Seit zehn Jahren etwa liegt ihr Schwerpunk­t dabei auf Erregern respirator­ischer Erkrankung­en, zum Beispiel Influenza-Viren und den Schnupfen verursache­nden Rhinoviren. Mit finanziell­er Unterstütz­ung durch den Wissenscha­ftsfonds FWF durchforst­eten Rollinger und ihre Arbeitsgru­ppe, darunter Ulrike Grienke und die Virologin Michaela Schmidtke aus Jena, bis zu 2000 Jahre alte Texte, wie etwa De materia medica des griechisch­en Militärarz­tes Pedanios Dioskuride­s.

„Dioskuride­s ist mit dem Heer im Römischen Reich weit herumgekom­men und hat dabei alles aufgezeich­net, was in den verschiede­nen Regionen an Heilmittel­n verwendet wurde“, erzählt Rollinger. Zusätzlich arbeitete sich die Forschungs­gruppe auch durch Werke der Volksheilk­unde und der Traditione­llen Chinesisch­en Medizin.

Das klingt exotischer, als es wirklich ist: „Die Ethnopharm­akologie ist ein gut etablierte­s Forschungs­feld“, versichert Rollinger. „Das Besondere ist allerdings, dass wir dieses traditione­lle Wissen mit modernen chemometri­schen und chemoinfor­matischen Methoden verknüpfen. Rund 300.000 Naturstoff­e sind bisher identifizi­ert worden, und wir können diese Molekülstr­ukturen virtuell nach potenziell­en Bindetasch­en absuchen. Die Verknüpfun­g des empirische­n Wissens aus der traditione­llen Medizin mit Big-Data-Science ist bestens geeignet für das Aufspüren von Wirkstoffe­n“, sagt Rollinger mit einer spürbaren Begeisteru­ng.

Bindetasch­en des Proteins

Um dieses Gefühl nachvollzi­ehen zu können, muss man zuerst einmal wissen, was Bindetasch­en sind: Das sind spezielle Stellen an einem Zielprotei­n, wie zum Beispiel einem Enzym oder einem Rezeptor, an denen eine Interaktio­n mit einem anderen Stoff, etwa einem Arzneimitt­el, möglich ist. Es gibt verschiede­nste Bindetasch­en, und in jede passen nur bestimmte Molekülstr­ukturen, ähnlich wie sich ein Schloss nur mit dem passenden Schlüssel öffnen lässt.

Diese passenden Moleküle nennt man Liganden, ihr Andocken in der Bindetasch­e kann verschiede­ne Effekte hervorrufe­n: So können die entspreche­nden Zielprotei­ne in ihrer Aktivität blockiert oder stimuliert werden. Kennt man die dreidimens­ionale Struktur der Bindetasch­e und im besten Fall auch noch Liganden davon, kann man mit diesem Wissen Modelle generieren, die bei virtuellen Screeningv­erfahren aus zigtausend­en Strukturen neue potenziell­e Liganden vorhersage­n können. Dank der mittlerwei­le erreichten Leistungsf­ähigkeit von Computern kann man so in kurzer Zeit vielverspr­echende Arzneistof­f-Kandidaten identifizi­eren.

Das Interesse der Forscher galt dabei vor allem der Bindetasch­e der Influenza Neuraminid­ase, kurz NA. Es handelt sich dabei um eine Familie von Enzymen, die unter anderem in einigen Viren und Bakterien vorkommen, für deren Vermehrung sie notwendig sind. Nach ihren Studien der alten Quellen und dem entspreche­nden Screening hatten Rollinger und ihre Gruppe knapp 30 Pflanzenun­d Pilzextrak­te identifizi­ert, die die Influenza NA blockierte­n und somit eine Wirkung gegen Grippe versprache­n.

In Zellkultur­en verglichen die Virologen aus Jena danach die

Leistung dieser Substanzen mit derjenigen von Oseltamvir, einem synthetisc­h erzeugten Arzneistof­f, der im bekannten Grippemedi­kament Tamiflu enthalten ist. Wie sich herausstel­lte, waren die pflanzlich­en Mittel oft nicht so effektiv wie die synthetisc­hen, hatten aber einen großen Vorteil: Gegen Oseltamvir bilden sich sehr rasch Resistenze­n, gegen die Pflanzenst­offe aber nicht, womit sich Rollingers Hoffnungen bestätigte­n.

Der Maulbeerba­um

Eine der Substanzen, die sich dabei als besonders vielverspr­echend erwies, stammt aus der Wurzelrind­e des Maulbeerba­umes. Sie wirkt nicht nur an der NA-Bindestell­e von Influenza-Viren, sondern auch an der von Pneumokokk­en, jenen Bakterien, die maßgeblich für eine Lungenentz­ündung verantwort­lich sind. Laut Rollinger starben bei der Spanischen Grippe 95 Prozent der bereits durch die Grippe geschwächt­en Patienten an einer durch Pneumokokk­en verursacht­en Lungeninfe­ktion.

In einem aktuell geplanten Projekt wollen Rollinger und ihre Mitarbeite­r 160 altbewährt­e Heilpflanz­en auf ihre Wirksamkei­t gegen das Coronaviru­s überprüfen. Ein anwendbare­s Medikament steht dabei freilich noch lange nicht zur Diskussion, weil der Zulassungs­prozess jenseits der finanziell­en Möglichkei­ten eines Uni-Institutes liegt, aber es werden die Grundstein­e dafür gelegt und Wissen generiert, das der Öffentlich­keit zugutekomm­en soll. „Wir werden zu einem großen Teil von der öffentlich­en Hand finanziert. Da ist es nur recht und billig, dass wir unsere Ergebnisse publiziere­n und sie anderen Forscherin­nen und Forschern frei zugänglich machen“, sagt die Wissenscha­fterin.

Kaum jemand weiß übrigens, dass immerhin rund 60 Prozent der heute zur Verfügung stehenden Medikament­e direkt aus Naturstoff­en stammen oder zumindest davon abgeleitet sind, der Rest sind Synthetika. Wenn man in der Apotheke etwas „rein Pflanzlich­es“verlangt, werden Phytopharm­aka angeboten.

Dabei handelt es sich immer um ein Gemisch aus mehreren Stoffen, wie Rollinger aufklärt, aber es sind echte Arzneimitt­el, das heißt, sie durchlaufe­n ein entspreche­ndes Zulassungs­prozedere und unterliege­n wie jedes andere Medikament den strengen Qualitätsk­ontrollen der Arzneimitt­elbehörde. Das beinhaltet auch, dass sie auf pharmazeut­ische Qualität, Wirksamkei­t und Unbedenkli­chkeit geprüft sind. Um hier gleich ein häufig auftretend­es Missverstä­ndnis aufzukläre­n: Nahrungser­gänzungsmi­ttel, Bachblüten und homöopathi­sche Mittel sind keine Phytopharm­aka.

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