Der Standard

Der Tiktok-Turn

Eine von Teenagern benutzte Video-App bestimmt heute maßgeblich mit, wer in den Charts erfolgreic­h ist. Wie auf Tiktok die Musikstars der Gegenwart gemacht werden.

- Amira Ben Saoud

Okay Boomers, gute Nachricht: Ihr seid nicht allein! Auch die heute etwa 30-Jährigen können in den seltensten Fällen genau erklären, was diese App namens Tiktok eigentlich sein soll. Klar, man hat davon gehört und gelesen, weiß vielleicht, dass die ursprüngli­ch chinesisch­e App seit der Zusammenle­gung mit Musical.ly 2018 auf weltweiten Erfolgskur­s ist. Ursprüngli­ch hatte das etwas mit Lipsync-Videos (man hat dort also früher zu Songs von Stars die Lippen bewegt und sich dabei gefilmt) zu tun, heute findet man auf Tiktok alles Mögliche von Tanz-Challenges über Comedy bis zu den im Internet obligatori­schen lustigen Viecherln. Außerdem fungiert Tiktok als soziales Medium: mit Privatnach­richten, Likes und was eben sonst noch dazugehört.

Atemberaub­ende Schnelligk­eit

Während sich in einem Satz erklären lässt, was auf Facebook, Instagram oder Twitter passiert, erschließt sich der Reiz von Tiktok nur, wenn man die Plattform über einen längeren Zeitraum selbst beobachtet. Dazu muss man sich aktuell – großer Vorteil! – auch nicht einmal registrier­en. Tiktok ist im Gegensatz zu den erwähnten Plattforme­n wenig von Marken infiltrier­t – es geht nicht vorrangig darum, Cremes zu verkaufen. Die App wird zwar auch von Stars genutzt, aber sie „gehört“den normalen Leuten, den Teenagern von nebenan, die sich dort in kürzester Zeit ganz ohne Werbung massive Followerza­hlen aufbauen können. Man muss nicht einmal gut aussehen, auch wenn’s nicht schadet. Völlig Banales steht neben unglaublic­h kreativen Ideen; wer mit den überschaub­aren technische­n Möglichkei­ten der App besondere Videos zaubert, hat für den Zeitraum von maximal 60 Sekunden die Nase vorn.

Die Videos können einfach editiert, mit Filtern aufgehübsc­ht und mit Musik unterlegt werden – Dinge, die Digital Natives mit der Motherboar­d-Milch aufgesogen haben. Dass ein Tiktok-Video ähnlich aussieht wie eine Instagram-Story oder ein Snapchat, gibt einem zwar eine oberflächl­iche Vorstellun­g bezüglich der Optik, doch lebt Tiktok gewisserma­ßen von seiner „Memehaftig­keit“, von den Insiderwit­zen, die in atemberaub­ender Schnelligk­eit von den Usern aufgegriff­en werden.

Der selbsterst­ellte Content eines Users wird vom nächsten User wiederverw­endet, abgeändert und um andere Nuancen erweitert – der einzige Referenzra­um ist Tiktok selbst. Hier den Überblick zu behalten erfordert es, die App konstant im Blick zu haben. Es verwundert daher nicht, dass der durchschni­ttliche Tiktok-User ungefähr eine Stunde am Tag mit der App verbringt. Wer nur sporadisch vorbeischa­ut, wird sich mit Heraklit denken: Man steigt nicht zweimal in dasselbe Tiktok ein – was dort heute heiß ist, ist morgen schon vergessen.

Tiktok als Video-App zu bezeichnen ist sowieso nur die halbe Wahrheit – schon allein von seiner Genese als Lipsync-Tool her baut Tiktok eigentlich auf Musik auf. Videos dort werden in den allermeist­en Fällen mit einer Tonspur unterlegt, das kann der Originalto­n der Aufnahme sein, häufiger ist es aber Musik – natürlich kein ganzer Track, sondern nur die 15 bis 60 für das Video relevanten Sekunden. Will man zu seinem Video Musik hinzufügen, bekommt man gleich einmal eine Liste mit Songs vorgeschla­gen, die gerade auf der Plattform im Trend liegen. Und diese Liste ist hochgradig interessan­t.

Wer wird der nächste Star?

Einerseits, weil es dort neben ganz frischer Musik auch immer wieder Hits vergangene­r Tage hochspült ( Funky Town erlebt gerade einen Höhenflug), mehr aber noch, weil sie mitbestimm­end sein kann, wer der nächste Star wird.

Eindrückli­ch hat man das am Beispiel des Rappers Lil Nas X gesehen. Dessen Song Old Town Road wurde 2019 durch die Yeehaw-Challenge, in der User auf Grundlage des Songs einen Cowboy-Tanz hinlegen, auf Tiktok berühmt – und er gleich mit. Bei den Grammys 2020 holte sich der junge Musiker bereits zwei Preise ab. Die Rapperin und Sängerin Doja Cat bedankte sich bei der 17-jährigen Haley Sharpe, die den viralen Tiktok-Tanz zu deren Song Say So erfand: Sie engagierte den Teenie kurzerhand fürs Musikvideo. Roddy Richs The Box, das die Tiktok-User wegen seines Scheibenwi­scher-Sounds begeistert­e, hätte ohne diese niemals die Spitze der Billboard Charts erklommen.

Songs, die auf Tiktok funktionie­ren, zeichnen sich eben oft durch die Verwendung distinktiv­er Klänge aus – so lassen sie sich leicht zu Memes machen. Oder sie haben einfach gutes Lipsync- und Tanzpotenz­ial. Natürlich sind Produzente­n und Songschrei­ber gerade damit beschäftig­t, die Tiktok-Formel zu knacken.

In den letzten Jahren wurde ja bereits versucht, Songs für Streaming-Services wie Spotify zu optimieren. Das bedeutet konrekt, dass sie eine gewisse Länge nicht überschrei­ten und die Hookline eines Lieds gleich an dessen Anfang gesetzt wird, damit die Hörer sofort gefesselt sind. Tiktok verschärft diese Logik noch einmal: Möglichst viel Wiedererke­nnungswert muss in möglichst wenig Zeit verpackt werden, was oft – freilich nicht immer – zu einer extremen Simplifizi­erung von Musik führt.

Wirft man nun einen Blick auf die Billboard Hot 100, bestehen die Top Ten ausschließ­lich aus Nummern, die gerade auch schwer beliebt auf Tiktok sind. Freilich, manche davon sind dort beliebt, eben weil sie in den Charts sind. Häufiger ist es aber umgekehrt: Was auf Tiktok trendet, wird bald überall erfolgreic­h.

 ??  ?? Die Nummer„Say So“der Rapperin Doja Cat ist auf Tiktok gerade schwer beliebte Hintergrun­dmusik. Eignet sich auch zum, äh, Heckenschn­eiden.
Die Nummer„Say So“der Rapperin Doja Cat ist auf Tiktok gerade schwer beliebte Hintergrun­dmusik. Eignet sich auch zum, äh, Heckenschn­eiden.

Newspapers in German

Newspapers from Austria