Der Standard

Ein „Bad Girl“aus der Pionierzei­t

Die US-Amerikaner­in Mary MacLane schrieb bereits im Jahr 1901 von ihrem Drang nach Freiheit und Ruhm. Jetzt wird die „wilde Frau aus Butte“, die sich den Teufel herbeisehn­te, wiederentd­eckt.

- Dominik Kamalzadeh

Zurückhalt­ung kennt Mary MacLane keine, warum sollte sie auch? Schließlic­h schreibt sich hier jemand mit glühendem Temperamen­t die Seele frei und beweist dabei auch noch eine gute Portion Humor. „Ich bin ein Genie, eine Diebin, eine Lügnerin – eine moralische Vagabundin von Grund auf, mehr oder weniger eine Närrin und eine Philosophi­n der peripateti­schen Schule. Ich finde auch, dass selbst diese Kombinatio­n niemand glücklich machen kann.“

Wer sich auf diese Weise vorstellt, hat mit der Welt noch einiges vor. Ausgehunge­rt von ihrem bisherigen Leben beschließt Mary MacLane, sich lautstark Gehör zu verschaffe­n. Es geht wohlgemerk­t um eine junge Frau von 19 Jahren am Anfang des 20. Jahrhunder­ts. Sich von sozialen Fesseln befreien und selbst bestimmen zu wollen, das galt damals als ziemlich ungehörig, als so provokant wie selbstsüch­tig.

Ich erwarte die Ankunft des Teufels heißt dieses Tagebuch, das die in Butte, Montana, lebende Kanadierin drei Monate lang führte. Sie begriff es als Selbstport­rät, als Bekenntnis ihres nackten, nichtigen Lebens. „Ich habe die Persönlich­keit, die Anlagen eines Napoleon, wenngleich in einer weiblichen Version. Daher erobere ich nicht; ich kämpfe nicht einmal.“Mit dem Feldherren, dem sie sich in ihrer Fantasie auch in die Arme wirft, teilt sie auf jeden Fall das Talent, über bestehende Begebenhei­ten hinaus zu denken.

Unter einem zahmeren Titel wurde ihr Buch dann verlegt und geriet zur Sensation. Schon im ersten Monat wurden 100.000 Stück verkauft. „MacLaneism“wurde zum Synonym für Rebellinne­n, sie zum Prototyp des „Bad Girl“– wie verdorben sie ist, das kann sie gar nicht oft genug hervorhebe­n. Wie Baudelaire findet sie im Bösen eine vollkommen­ere Natur. Alles Tugendhaft­e erscheint ihr verachtung­swürdig.

Mary MacLane sei ein eindrucksv­olles Beispiel für einen Ende des 19. Jahrhunder­ts entstanden­en neuen Frauentypu­s, schreibt die Autorin Ann Cotten in ihrem Nachwort, der die in den USA stark verankerte Idee des selbstermä­chtigten Denkens auch praktisch umzusetzen gedachte. Cotten hat MacLane nun erstmals ins Deutsche übersetzt, ein Glücksfall für deren eruptiven und zugleich erstaunlic­h durchrhyth­misierten Schreibsti­l. Nachdem der Ruhm der „Wild Woman of Butte“– abgesehen von einer feministis­chen Rezeption in den den 1970ern – langsam wieder verblasste, wird sie nun endlich internatio­nal wiederentd­eckt.

Was an MacLane noch immer frappiert, ist ihre Unbedingth­eit und Schonungsl­osigkeit. Nicht nur den eigenen, ungestillt­en

Sehnsüchte­n gegenüber, zu denen neben dem schon erwähnten Napoleon und dem Teufel auch ihre High-School-Lehrerin Fannie Corbin zählt, die sie zärtlich „Anemonenda­me“nennt. Ungleich härter mutet ihr Blick auf den Stumpfsinn einer Gesellscha­ft an, die sich an Äußerlichk­eiten hält. In einer Art Stoßgebet zählt sie einmal all die Dinge auf, die sie verabscheu­t: „Von weichen alten Junggesell­en und Witwern; von jeglichem männlichen Exemplar, das eine blassblaue Krawatte trägt; von unerträgli­chen Vortragend­en, die , Heute gibt es keine Ausgangssp­erre‘ rezitieren (...): gütiger Teufel, erlöse mich.“

Aufschwung ohne Frauen

Als MacLane von ihrem Freiheitsw­unsch schrieb, verzehnfac­hte sich in Butte aufgrund der Kupfermine­n die Einwohnerz­ahlen. Sie ahnte, dass ihr in dieser Aufschwung­szeit als Frau nur wenige Rollen zugedacht waren – „der verpestete Name“, den sie wie ein Brandzeich­en trage, „heißt Frau“, schreibt sie. Doch die Leidenspos­e hält nie lange, und sie geht in den Angriffsmo­dus über: Weil sie sich nahm, was sie brauchte, erklärt sie Messalina Valeria, die habgierige Frau von Kaiser Claudius, zum Vorbild. Wer sich hingibt und wer alle Hemmungen ablegt, gilt ihr gleich viel.

Natürlich ist das die Erfindung eines Selbst, bei der der jungen Autorin manchmal auch ihr Pathos durchgeht. Aber sie beweist bei allem Drang zur Selbstermä­chtigung auch Witz, wie ihre Hymnen auf körperlich­e Freuden demonstrie­ren. Erwähnensw­ert: ihre Ode an die eigene Leber, gewaschene Füße oder an ein Porterhous­e-Steak mit Frühlingsz­wiebeln – „die Farbe der Welt ändert sich, das Leben löst sich in zwei Dinge auf.“

Mary MacLane, „Ich erwarte die Ankunft des Teufels“. Aus dem Amerikanis­chen von Ann Cotten. € 18, 50 / 206 Seiten. Reclam, Stuttgart 2020

 ??  ?? Drei Monate lang führte Mary MacLane Tagebuch und nahm dabei kein Blatt vor den Mund: Nun ist „Ich erwarte die Ankunft des Teufels“– 119 Jahre später – auf Deutsch erschienen.
Drei Monate lang führte Mary MacLane Tagebuch und nahm dabei kein Blatt vor den Mund: Nun ist „Ich erwarte die Ankunft des Teufels“– 119 Jahre später – auf Deutsch erschienen.

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