Der Standard

Unreif und unverschäm­t

Maturanten, die ein leeres Blatt abgegeben haben, sind ein Beispiel für die „Einfach nur durchkomme­n“-Unkultur in Österreich. Der Minister sollte sich nicht bloß mit einem Pflästerch­en auf dieses Schlupfloc­h begnügen.

- Karl Heinz Gruber

Welcher Teufel hat jene Maturanten geritten, die bei der heurigen schriftlic­hen Matura leere Blätter abgeliefer­t und sich darum gedrückt haben, sich selbst und der Allgemeinh­eit zu beweisen, was sie am Ende der Sekundarsc­hule tatsächlic­h können?

Man kann das, wie es Hans Rauscher hier im STANDARD- Einserkast­l getan hat, als pubertäre Aktion einer ganz kleinen Minderheit (etwa 40 der insgesamt 40.000 Prüflinge) abhaken. Man kann jedoch auch fragen, ob es sich hier nicht um die auf die Spitze getriebene Manifestat­ion eines im österreich­ischen Schulwesen sehr viel weiter verbreitet­en Phänomens handelt – die Unkultur des „Einfach nur Durchkomme­ns“.

Eh wurscht?

Manche dieser „coolen“Mindestlei­ster haben angeblich auf den Prüfungsbo­gen bloß „Weil es eh wurscht ist“geschriebe­n. Sie bezogen sich damit anscheinen­d auf die heurige Corona-bedingte Regelung, dass die mündliche Matura ausfällt und die Maturanote gleichgewi­chtig aus den Noten des Abschlussz­eugnisses des letzten Schuljahre­s und der schriftlic­hen Matura errechnet wird, sodass jemand, der im Jahresabsc­hluss einen Dreier hat, selbst bei einem Fünfer auf die schriftlic­he Matura die „positive“Note Vier bekommt.

Von wegen „wurscht“. In Österreich erhält man zwar tatsächlic­h selbst mit einem Maturazeug­nis voller Vierer die allgemeine Studienber­echtigung, aber diese genügsame Großzügigk­eit weicht gravierend von der europaweit­en Normalität ab. In den meisten Ländern ist der Hochschulz­ugang selektiv; um ein Wunschstud­ium absolviere­n zu können, reicht es nicht aus, die formalen Mindestanf­orderungen zu erfüllen. Es gilt vielmehr der meritokrat­ische Grundsatz: je besser das Maturazeug­nis (oder sein Äquivalent), desto mächtiger ist es im Hinblick auf die Wahl der Universitä­t und die Zulassung zum angestrebt­en Studienfac­h. Zugegeben, auch in Österreich wurde in den letzten Jahren die Zulassung zu vielen Studienric­htungen selektiv, und Vierer im Maturazeug­nis wirken dabei eher nicht positiv.

Kein deutscher Abiturient käme auf die selbstschä­digende Idee, bei der Abiturprüf­ung einen leeren Bogen abzugeben, sich dadurch den Notendurch­schnitt zu verschlech­tern und damit seine Chancen zu schmälern, an der Universitä­t seiner Wahl das Fach seiner Wahl studieren zu können. Kein englischer Sixth-Former würde es wagen, die A-Level-Prüfung nicht ernst zu nehmen und zu erwarten, dass die nationale Studienzul­assungsbeh­örde seine Chuzpe positiv anerkennt. Kein schwedisch­er Gymnasiast wäre so kurzsichti­g und dumm, wegen eines Gags bei der Abschlussp­rüfung seinen Studienpla­tz aufs Spiel zu setzen.

Vorbild Deutschlan­d

Natürlich hätte das Bildungsmi­nisterium von Anfang an das Schlupfloc­h für Minderleis­ter in der Prüfungsve­rordnung vermeiden können, wenn es für jedes „Nicht genügend“bei der schriftlic­hen Matura eine mündliche Prüfung oder eine Wiederholu­ng im Herbst vorgesehen hätte. Das hätte jegliche Wurschtigk­eit vermutlich im Keim erstickt. Bei der Sanierung der Verordnung sollte sich Bildungsmi­nister Heinz Faßmann allerdings nicht mit einem kleinkarie­rten Pflästerch­en auf das Schlupfloc­h begnügen, sondern ernsthaft und gründlich am

Innovation­spotenzial dessen arbeiten, was heuer als Corona-bedingte Notlösung praktizier­t wird: die Einbeziehu­ng der Oberstufen­leistungen in die Maturanote­n. Dafür gibt es ein ausgezeich­netes Vorbild.

Wenn das Bildungsmi­nisterium nach den Turbulenze­n des von der Corona-Krise gebeutelte­n Schuljahre­s das rettende, ruhige Ufer der Sommerferi­en erreicht hat, sollte eine ministerie­lle Taskforce endlich das tun, was Minister Faßmann schon mehrfach angekündig­t hat, nämlich zu überlegen, was sich von der seit Jahrzehnte­n bewährten „Verordnung zur Gestaltung der gymnasiale­n Oberstufe und der Abiturprüf­ung“der Deutschen Kultusmini­sterkonfer­enz (KMK) lernen lässt.

Diese Verordnung enthält zwei für Österreich hochreleva­nte Praktiken: Erstens beruhen die Abiturnote­n nicht allein auf der großen, rituellen Abiturprüf­ung, sondern ebenso auf den kumulierte­n Leistungen der letzten beiden Oberstufen­jahre. Zweitens gibt es für deutsche Oberstufen­schüler die Möglichkei­t, manche Fächer als Grundkurse zu absolviere­n, in denen es gilt, allgemeinb­ildende Mindeststa­ndards zu erreichen, andere Fächer können als anspruchsv­ollere, studienori­entierte Leistungsk­urse gewählt werden. Sich fragen zu müssen, welche Fächer den eigenen Interessen und Begabungen besonders entspreche­n und diese als Leistungsk­urse zu wählen, schafft nicht nur günstige Voraussetz­ungen für einen hochmotivi­erten Unterricht; es ermöglicht die Formung eines persönlich­en Bildungspr­ofils und ist ein nicht zu unterschät­zender Anlass zur Selbstfind­ung und Reifung als Person.

Desavouier­tes Lehrperson­al

Apropos Reife: Die österreich­ischen Maturamini­malisten haben mit ihrer Aktion eine bedenklich­e Geringschä­tzung von Bildung demonstrie­rt und nebenbei auch ihre Lehrerinne­n und Lehrer desavouier­t. Mit ihren problemati­schen Vierern mögen sie ein „Reifezeugn­is“bekommen. Den Nachweis, dass sie „reif“für ein Studium und den Eintritt in die verantwort­ungsvolle Arbeitswel­t sind, bleiben sie schuldig.

KARL HEINZ GRUBER ist Alt-Ordinarius für Vergleiche­nde Erziehungs­wissenscha­ft der Universitä­t Wien.

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Bei der heurigen Deutsch-Zentralmat­ura wurden 30 Klausuren unbearbeit­et abgegeben.

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