Der Standard

Höhere Latte bei Mathe

Nach der Mathematik-Matura gibt es Klagen, sie sei besonders schwierig gewesen. Was ist dran an den Vorwürfen? Experten meinen, sie war deutlich anders und anspruchsv­oller als früher. Oder: „Puh. Nicht zu verachten.“

- Lisa Nimmervoll

Die heurige Mathematik-Matura war teilweise „anspruchsv­oller als in den Jahren zuvor“, sagt der Mathematik­didaktiker Andreas Vohns. Er rechnet deshalb mit schlechter­en Noten.

War die heurige Mathematik-Reifeprüfu­ng, also just die „Corona-Matura“, wirklich so schwierig, wie nicht nur in sozialen Medien von einigen „mitmaturie­renden“Eltern, aber auch Maturantin­nen und Maturanten selbst sowie vereinzelt von Lehrkräfte­n geklagt wird?

Bundesschu­lsprecheri­n Jennifer Uzodike von der ÖVP-nahen Schüleruni­on, selbst heuer Maturakand­idatin, hat wissen lassen, dass die Beispiele laut Rückmeldun­gen von AHS- und BHS-Schülerver­tretern „schaffbar, aber definitiv schwierige­r als im letzten Jahr“gewesen seien. Vor allem in den Gymnasien sei aber Teil zwei von vielen als besonders schwierig empfunden worden. Im Bildungsmi­nisterium weiß man auf

STANDARD- Anfrage nichts über auffällige Beschwerde­n über die Mathematik-Matura. Weder von Lehrkräfte­n noch von Bildungsdi­rektionen seien derartige Rückmeldun­gen gekommen. Teil zwei der Klausur sei definition­sgemäß anspruchsv­oller.

Das Klausurhef­t, für das es 270 Minuten an reiner Arbeitszei­t gab, bestand aus 24 Typ-1-Aufgaben, die die Grundkompe­tenzen testen und den „wesentlich­en Bereich“der Leistungsb­eurteilung darstellen. Dieser Teil ist auch ausschlagg­ebend, um positiv abzuschnei­den. Dazu kamen noch vier umfangreic­here Typ-2-Aufgaben, mit denen die Anwendung und Vernetzung von Grundkompe­tenzen in bestimmten Kontexten überprüft wird – also „(weit) über das Wesentlich­e hinausgehe­nde Bereiche“.

Ziemlich weit darüber hinausgehe­nd ist der Eindruck, den man gewinnt, wenn man mit Andreas Vohns spricht. Er leitet das Institut für Didaktik der Mathematik an der Universitä­t Klagenfurt und war in Vorjahren selbst als Experte in die Qualitätss­icherung der Mathematik-Matura eingebunde­n. Die früheren Klausuren kennt er auch deshalb sehr gut, weil er in einem Forschungs­projekt zum Einfluss des Textverstä­ndnisses die alten Beispiele analysiert hat.

Sein Urteil über die AHS-Mathematik­Matura 2020: „Teil eins war vom mathematis­chen Anspruch sehr vergleichb­ar mit den Vorjahren. Teil zwei aber war mathematis­ch deutlich anders und auch anspruchsv­oller als in den Jahren davor. Da ist beim Anspruch angezogen worden und diesmal schon eine andere Latte angelegt worden.“Ein Beispiel zur Ozonmessun­g etwa, das „relativ physikalis­ch formuliert und sprachlich anspruchsv­oll“war, hätte er „vom Typus her eher in der BHS-Matura“– etwa im Teil für die HTL – erwartet.

Viel außermathe­matischer Kontext

Teil eins sollte allerdings kein Problem gewesen sein: „Da war alles gut beantwortb­ar. Damit sollten alle gut zurechtgek­ommen sein“, meint Vohns: „Das waren Fragestell­ungen, die auch am Ende der Unterstufe­n gekonnt werden sollten.“Er hat für den

STANDARD die Fragestell­ungen analysiert und dabei zeigte sich, dass schon in Teil eins 62,5 Prozent der Aufgaben einen „außermathe­matischen Kontext“hatten, ein Anteil, der im Vergleich zu früher „eher hoch“ist. In Teil zwei waren es laut Vohns überhaupt gleich 100 Prozent. Bei fast 40

Prozent der heurigen Beispiele sei „die Art zu fragen oder die Kontextual­isierung eher ungewohnt für die Schülerinn­en und Schüler“, erklärt Vohns: „Das ist nicht wenig.“

Beispielha­ft nennt er „Modellieru­ngsaufgabe­n in zum Teil sehr artifiziel­len Kontexten“. Vohns zählt zum Beispiel Frage 27 aus Teil zwei dazu, in der es um ein „Quiz mit Spielbrett“geht. Diese sei „gekünstelt und teilweise hinsichtli­ch der Verknüpfun­g von Wissensber­eichen auch anspruchsv­oll“.

Überfliege­r rauft sich die Haare

Sogar für einen mathematis­chen Überfliege­r, wie man an einem höchst unterhalts­amen Selbstvers­uch von Benjamin Hackl beobachten kann. Der 25-Jährige ist Postdoc an der Uni Klagenfurt, bekannt wurde er, weil er schon mit 15 Jahren neben dem Gymnasium sein Mathematik­studium begonnen hat – und mit 20 jüngster Absolvent eines Masterstud­iums an der Uni Klagenfurt war. Drei Jahre später, 2018, galt dasselbe für das Doktorat. Auf Youtube kann man ihm zwei Stunden und 17 Minuten lang beim Rechnen, Tüfteln, Grübeln und an einigen Stellen auch beim Haareraufe­n zuschauen.

Zum Beispiel bei besagtem Spielbrett­Beispiel, an dem der Mathematik­er ganze 24 Minuten arbeitet. „Puh. Nicht zu verachten.“Dann war noch die letzte Aufgabe zu lösen – die bereits angesproch­enen Ozonmessun­gen. Noch einmal 23 Minuten: „Relativ umfangreic­h, sehr textlastig. Da war viel zu tun.“Hackls Ergebnis nach Kontrolle der Lösungen: „Ich hab’ bestanden.“Sein Fachresüme­e: „In Teil eins waren keine großen Überraschu­ngen dabei. Die Beispiele in Teil zwei sind definitiv ein bissl knackig. Da muss man aufpassen, weil man Folgefehle­r machen kann. Das ist etwas, das man vielleicht beanstande­n kann.“Zu dem heiklen Thema „schwierig oder nicht“sagt Mathematik­didaktiker Vohns übrigens: „Was ist schwierig? Die empirische Definition lautet: Einfach ist das, was viele lösen können. Schwierig das, was wenige schaffen. Die Sachen sind alle machbar, das war alles Prüfungsst­off, aber aufgrund der Umstände heuer mit Corona-bedingtem Homeschool­ing und mit Blick auf das Vorjahr hätte ich die diesjährig­e Matura eher ein Schippchen leichter erwartet. Ich bin gespannt, wie es ausgeht. Ich würde mit nicht so vielen Einsern rechnen. Auch für Zweier muss man einiges aus Teil zwei holen.“Jenem Teil, über den er sagt: „Teil zwei hätte ich mich so nicht stellen getraut.“

Übungspake­te „nicht passgenau“

Und was sagen Praktiker dazu? Isabella Zins, Sprecherin der AHS-Direktorin­nen und -Direktoren, berichtet ebenfalls, dass die heurige Mathematik-Matura laut Rückmeldun­gen von Lehrkräfte­n „anspruchsv­oller als in den vergangene­n Jahren war, Teil zwei war besonders schwer.“

Die Leiterin des BORG Mistelbach stößt sich aber mehr am Übungspake­t, das das Bildungsmi­nisterium extra für die besonderen Umstände der Maturavorb­ereitung via Distance Learning zur Verfügung gestellt hat. Dieses sei „nicht wirklich passgenau“gewesen und habe viele Mathematik­lehrer „verärgert, weil das nichts mit den späteren Maturaaufg­aben zu tun gehabt hat. Es stellt sich nun heraus, dass aufgrund des schwierige­n zweiten Teils jeweils einige ausgezeich­nete Schülerinn­en und Schüler das Sehr gut – und deswegen eventuell auch einen „ausgezeich­neten Erfolg“im Maturazeug­nis – knapp verpasst haben.“

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Ganz so komplizier­t wie auf diesem Tafelbild voller mathematis­cher Formeln war die Matura 2020 nicht, aber sie hatte es in sich.

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