Der Standard

Italiens langsame Rückkehr zur Normalität

Seit Mittwoch sind die Grenzen wieder offen – doch wirtschaft­lich und politisch geht das Land schwierige­n Zeiten entgegen

- Dominik Straub aus Rom

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Tage hat der Lockdown in Italien gedauert – länger als bisher in jedem anderen Land. Doch seit gestern können sich die Bürgerinne­n und Bürger in ihrem Land wieder frei bewegen: Die Grenzen zwischen den insgesamt 20 Regionen Italiens wurden geöffnet und die Pflicht, einen Passiersch­ein mit sich zu tragen, ist abgeschaff­t. „Heute beginnt Italien wieder zu leben“, erklärte Regionenmi­nister Francesco Boccia. Die Ladengesch­äfte, Bars und Restaurant­s waren schon vor zwei Wochen wieder geöffnet worden. Die meisten der zuvor geschlosse­nen Fabriken und Betriebe konnten ihre Produktion ebenfalls schon am 18. Mai wiederaufn­ehmen.

Seit gestern sind nicht nur die inneritali­enischen Grenzen wieder offen, sondern auch jene zur EU sowie zur Schweiz und Großbritan­nien. „Italien ist bereit, wieder Touristen zu empfangen“, betonte Außenminis­ter Luigi Di Maio. Allerdings: Deutschlan­d, die Schweiz, Österreich und die anderen EU-Staaten wollen ihre Grenzen zu Italien noch bis mindestens zum 15.

Juni geschlosse­n halten. Zumindest auf ausländisc­he Gäste wird die von der Epidemie besonders stark getroffene Tourismusb­ranche also noch etwas warten müssen. Di Maio hat für die Zurückhalt­ung der Nachbarn wenig Verständni­s: „Wir sind kein Lazarett“, betonte der Außenminis­ter und verwies auf die drastisch gesunkenen Fallzahlen.

Harter Lockdown

Italien ist als erstes EU-Land von der Corona-Pandemie getroffen worden – und zählt mit bisher 33.600 Toten weltweit zu den Ländern, wo das Virus am schlimmste­n gewütet hat. Durch den von der Regierung von Giuseppe Conte verordnete­n langen und harten Lockdown konnte die Epidemie – von der Lombardei einmal abgesehen – inzwischen unter Kontrolle gebracht werden. Doch die Furcht vor einer möglichen „zweiten Welle“ist groß: Die Vorschrift­en zum Distanzhal­ten und zum Maskentrag­en in geschlosse­nen Räumen und öffentlich­en Verkehrsmi­tteln bleiben deshalb bis auf weiteres bestehen. Auch die Schulen werden erst wieder im September geöffnet.

Dennoch: Die Bilder der Militär-Lkws, die in Bergamo die Särge in andere Regionen abtranspor­tierten, werden im In- und Ausland wohl noch lange in Erinnerung bleiben. Und so werden die von der Regierung beschlosse­nen Grenzöffnu­ngen zum Ausland der Tourismusb­ranche voraussich­tlich erst mittelfris­tig Linderung verschaffe­n. Der unmittelba­re Effekt ist praktisch gleich null: Die Passagierz­ahlen in Italiens Flughäfen sind um 98 Prozent eingebroch­en, und viele Hotels bleiben vorläufig geschlosse­n – Buchungen verzeichne­n die meisten Betriebe, wenn überhaupt, erst ab Juli.

Die italienisc­he Wirtschaft stagniert seit Jahren – und droht nun in die schlimmste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg zu stürzen. Laut Ignazio Visco, dem Präsidente­n der italienisc­hen Notenbank, wird die Wirtschaft­sleistung in diesem Jahr um mindestens neun Prozent, eventuell aber sogar um 13 Prozent einbrechen. Armut und Arbeitslos­igkeit werden laut Experten im Herbst, wenn die staatliche­n Hilfsprogr­amme auslaufen, massiv zunehmen. Ohne die Zuschüsse und Kredite aus dem geplanten EU-Wiederaufb­aufonds wird Italien die Krise auch finanziell kaum überstehen.

Aber auch politisch geht das Land unruhigen Zeiten entgegen: Die beiden großen Regierungs­parteien – die Fünf-Sterne-Protestbew­egung und der sozialdemo­kratische PD – trennen nach wie vor große ideologisc­he und politische Unterschie­de. Für den Wiederaufb­au nach dem Lockdown ist zumindest bis heute keine überzeugen­de gemeinsame Strategie zu erkennen.

Die Opposition steht in den Startlöche­rn: Der Chef der rechtspopu­listischen Lega Nord, Matteo Salvini, hat zwar während der Pandemie stark an Popularitä­t eingebüßt – „geerbt“hat die rechten Proteststi­mmen allerdings die Chefin der postfaschi­stischen Fratelli d’Italia, Giorgia Meloni. Im Herbst, wenn die soziale Not größer wird, könnte die Stunde der Rechtspopu­listen und der Postund Neofaschis­ten schlagen.

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Foto: EPA / F. Attili Italiens Giuseppe Conte muss die Krise managen.

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