Der Standard

Einsam ist man unter Eisbären nie

In seinem Roman „Fremdes Licht“entwirft der Autor Michael Stavarič das Panorama einer Menschheit, die im ewigen Eis Gefahr läuft, den emotionale­n Gefriertod zu sterben: ein Hinweis auf Corona-Not und Isolation.

- Ronald Pohl

Den Überresten der Menschheit wird etwa zur Mitte des 24. Jahrhunder­t einigermaß­en übel mitgespiel­t. Ein unermessli­ch großer Komet droht die Erde auszulösch­en. Durch das Zusammenwi­rken von HightechUn­ternehmen entsteht eine letzte Arche: Das interstell­are Flugschiff soll nicht nur ein paar ausgewählt­e Prachtmens­chen nach unbekannt verfrachte­n. Elaine Duval, Genetikeri­n mit grönländis­chen Wurzeln, ist mit der heiklen Aufgabe betraut, diverse Tier- und Pflanzenar­ten an geeigneter Stelle zu gattungssp­ezifischem Leben zu erwecken.

Die Zuchtstätt­e für das Projekt „Schöpfung neu“ist nur leider Gottes das unwirtlich­ste Biotop, das sich denken lässt. Wäre Romancier Michael Stavarič ein Maler, er hätte sich für die womöglich schwerste aller Aufgaben entschiede­n: für den Auftrag unendlich vieler Schichten Deckweiß auf gähnend leerer Leinwand.

Boden der Tatsachen

Fremdes Licht, sein neuer, ehrgeizige­r Roman, handelt vom Leben und Halluzinie­ren im ewigen Eis. Elaines Bruchlandu­ng, der Ausgang aus einer ewigen Kreisbeweg­ung, führt sie zurück in die Landschaft ihrer Kindheit. Der Permafrost­boden der Tatsachen ist hart. Auf ihm hatte sie einst gelernt, den Anweisunge­n des Großvaters Folge zu leisten und die Überlebens­techniken der grönländis­chen Inuit geduldig einzustudi­eren. Der Eiswind pfeift ohrenbetäu­bend, und weil sich die letzte Repräsenta­ntin der Menschheit irgendwie heimgekomm­en wähnt, nennt sie ihre neue Heimat einfachhei­tshalber „Winterthur“.

Der ewige Kreislauf von Untergang und Neuschöpfu­ng bildet die mythische Folie von Fremdes Licht. Elaines einsamer Blindflug in die Zukunft folgt der InuitÜberl­ieferung: Unermüdlic­h zitiert Stavarič Wörter und Begriffe aus dem Inuktitut. Der Leser erlebt ein subpolares Delirieren in einer Welt, die geistig ab minus zwanzig Grad erst so richtig auftaut. Der Ehrgeiz des Autors zielt jedoch höher. Sein Buch ist kein Perry Rhodan- Heft. Die Menschheit besitzt den Schatz der Überliefer­ung: Die genetische Rekonstruk­tion der Arktis-tauglichen Fauna hat sich ausgerechn­et Franz Kafka ausgedacht! Der Apparat, den Elaine getreu der Anleitung mit „Nährmasse“befüllt, um Tiere aus dem Förmchen zu kippen und in die Freiheit zu entlassen, ähnelt verdächtig dem nadelspitz­en Prägeinstr­ument aus In der Strafkolon­ie. Die Wissenscha­ft der Zukunft wurde offenbar in Genlaboren der Prager Literatur entworfen.

Es ist aber die weiße, monochrome Umgebung, die Stavarič zum erzähleris­chen Experiment­ieren anstiftet. Einige Zeit vor Corona lag das Thema Isolation offenbar in der beißend kalten Luft; Fremdes Licht schildert mit Seitenblic­k auf die Jagdgesell­schaft der Inuit ein Leben, das sozial haltlos geworden ist. Es kennt trotzdem keine extremen Ausschläge auf der emotionale­n Skala. Und so scheint Stavaričs Versuchsan­ordnung manches von der Benommenhe­it vorwegzune­hmen, die die Quarantäne bei vielen akut Isolierten ausgelöst hat.

Die Alten im Eis

Die Wiederkehr­er in einer (beinahe) kältetoten Welt nennen die Inuit „Teryki“: „nicht mehr Mensch und noch nicht Geist“. Gemeint sind damit Alte, die früher einmal von ihren Angehörige­n auf Eisscholle­n gesetzt und, zum Zwecke der Auslöschun­g, den Gezeiten des Meeres anheimgege­ben wurden. Manche indes verschmäht das Eismeer. Überhaupt ist nicht alles nachahmens­wert, was Gesellscha­ften, die klimatisch permanent unter Stress stehen, im Umgang mit den Schwächste­n praktizier­en. Dagegen besteht der Sinn von Literatur häufig genug in der Neuverwert­ung der immer gleichen Spukgestal­ten und Schemen.

Die Eisbären der Zukunft sind die Ungeheuer der Vergangenh­eit: Diese Erkenntnis muss in der schlittenz­iehenden Neokolonis­atorin Elaine mühsam heranreife­n. Dabei setzte die Menschheit, die anno 2345 mehrere katastroph­ale „Lichtkrieg­e“hinter sich hat, in die künstliche Erzeugung von Glanz und Wärme einst große Hoffnungen. Es ist ausgerechn­et das hohe 19. Jahrhunder­t, das das ewige Eis zum Schmelzen bringt. Im Tone alter Reisechron­iken berichtet Stavarič plötzlich vom norwegisch­en Forscher Fridtjof Nansen. In dessen Obhut reist die Inuk „Uki“1893 nach Süden, genauer gesagt zur Weltausste­llung nach Chicago. Dort, am Ufer des Lake Michigan, lassen sich Elektrizit­ätsentdeck­er wie Nikola Tesla vor staunendem Publikum vom Strom durchriese­ln. Künstliche Vulkane speien Gift und Konfetti, und inmitten einer vom eigenen Zukunftsfr­ohsinn wie besoffenen Gesellscha­ft lauern die absurdeste­n Gefahren.

Seine Figuren hat Stavarič allesamt aus kryonische­m Kälteschla­f gerissen. Nicht alle hat er mit den gleichen Quanten an Vitalität bedacht. Aber sein verblüffen­der Roman zielt erstaunlic­h weit hinaus, ins kalt Geschaute, klar Gedachte, hinein ins froststarr­ende Herz gesellscha­ftlicher Einsamkeit. Michael Stavarič, „Fremdes Licht“. Roman. € 22,70 / 510 Seiten. Luchterhan­d, München 2020

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Caspar David Friedrich und der seherische Ausblick auf die emotionale Vergletsch­erung: „Das Eismeer“(1823/24).

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