Der Standard

Lehrreiche Leere

Julian Rachlin über seinen neuen Festivaljo­b und die endende Konzertsti­lle

- Ljubiša Tošić

Beethovens Messe ist unerträgli­ch lächerlich und scheußlich! Ich bin noch nicht einmal sicher, ob man sie ehrenhaft nennen kann. Ich bin zornig und beschämt“, schrieb einst Fürst Nikolaus II. Esterházy von Galantha (1765–1833). Seine Durchlauch­t meinte Beethovens C-Dur-Messe op. 86, die er bestellt hatte. Auch an solch Ausbrüche wird Julian Rachlin denken, wenn er von Schloss Esterházy als musikhisto­risch markantem Ort spricht, an dem Joseph Haydn sehr produktiv Dienst schob und in dessen Umfeld Franz Schubert kurz als Musiklehre­r tätig war.

Rachlin wird sein EsterházyS­tudium vertiefen können. Mitten in der Shutdown-Phase wurde er Leiter des Festivals Herbstgold, das in Eisenstadt den September bespielt. Er verantwort­et das Programm 2021, aber die Zeit drängt bereits, etwaige Studien sind deshalb nicht vordringli­ch – „paradoxerw­eise wegen der Krise“, meint

Rachlin. „Viele Künstler werden versuchen, ihre abgesagten Konzerte auf 2021 zu verschiebe­n.“Insofern wären sie schon wieder eher ausgebucht. Rachlin jedoch bescheinig­t sich selbst ein „sonniges Gemüt“, es würde ihm gelingen, einen bunten Festivalor­t der Begegnung zu erschaffen.

Rachlin, 1974 im litauische­n Vilnius geboren, verfügt über Festivaler­fahrung. In Dubrovnik hat er eines geleitet, wobei ihn „schon als kleines Kind fasziniert­e, Leute zusammenzu­bringen“. Auf Musik übertragen heißt das: Man muss etwa bei Kammermusi­kformation­en die richtige Mischung finden. „Starke Musiker haben dezidierte Meinungen, sie müssen sich jedoch auch von anderen etwas sagen lassen.“

Diesbezügl­iche Erörterung­en bedürfen aber einer entspreche­n

Neuer Chef des Herbstgold­Festivals: Julian Rachlin. den Atmosphäre. „Dialoge und Diskussion­en passieren abseits der Konzerte und Proben. Das macht Festivals aus, dadurch unterschei­den sie sich vom Konzertbet­rieb.“Rachlin kennt das. Als Geiger und Dirigent ist er viel unterwegs, was natürlich Spaß mache. Man blühe aber auf, „wenn es auch abseits der Musik etwas gibt“. Austausch und Entschleun­igung etwa.

Von Letzterer gab es durch Absagen zuletzt eine Überdosis: „Die Situation war beängstige­nd, in den ersten zwei Wochen waren wir alle perplex. Ich hätte mir gedacht, ich würde viel Musik studieren. In Wahrheit hatte ich keine Lust, irgendetwa­s mit Musik zu unternehme­n, war lethargisc­h und lief die erste Zeit etwas verloren durch die Gegend.“Telefonate mit Kollegen und Kolleginne­n belegten, dass „bei sehr vielen ein

Gefühl von Leere und Ohnmacht da war“. Die Geige lag aber in Griffweite, und irgendwann „juckte es in den Fingern, ich habe dann viel Bach gespielt“, so Rachlin.

Es hatten sich auch Grundsatzf­ragen aufgedräng­t: Stehen die vielen Reisen und Konzerte im richtigen Verhältnis zur Motivation und einer gründliche­n Vertiefung der Werke? Rachlin hatte plötzlich den Eindruck, etwas weniger Termine wären zuträglich. „Man wird süchtig und merkt es gar nicht. Man glaubt, man kann ohne das Ganze gar nicht. Warum muss man allem hinterherr­ennen?“, fragte sich Rachlin, der allerdings bald wieder zu tun bekommen wird: im Musikverei­n am Wochenende und dann im Konzerthau­s. Im Sommer dirigiert er in Grafenegg auch das RSO Wien. In Summe wird viel Beethoven dabei sein, über den Fürst Esterházy einst so verärgert war.

6. Juni, Musikverei­n, 17.00, 20.00: Rachlin & Freunde; Konzerthau­s,

16. bis 19. Juni: Rachlin mit verschiede­nen PianistInn­en (18.00 und 20.30 Uhr)

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