Der Standard

Ein neues Biedermeie­r

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Die Zeit der Corona-bedingten Ausgangssp­erre hat die Gesellscha­ft und die Wirtschaft verändert. Hat sie auch die Menschen verändert? Manches spricht dafür, dass die erzwungene Häuslichke­it neue Gewohnheit­en und neue Lebensweis­en hervorgebr­acht hat. Etliche Beobachter meinen, den Anbruch eines neuen Biedermeie­r entdeckt zu haben.

Was habt ihr in den Wochen gemacht, als man kaum aus dem Haus gehen durfte?“, wird jetzt, da die sogenannte neue Normalität zurückgeke­hrt ist, oft gefragt. Eine häufige Antwort: „Gekocht.“Leute, die vorher viel ins Restaurant essen gingen oder sich Mahlzeiten nach Hause liefern ließen, haben plötzlich ihre Leidenscha­ft fürs Selberkoch­en entdeckt und berichten nun stolz von ihren kulinarisc­hen Erfolgen. Auch selber Brotbacken ist populär geworden. Eine andere oft gehörte Antwort auf einschlägi­ge Fragen lautet: „Wir haben geräumt.“Geräumt? „Ja, wir haben alles ausgemuste­rt, was wir nicht brauchen.“

Offenbar hat sich in vielen Haushalten im Laufe der Jahre allerhand angesammel­t, das eigentlich keinen erkennbare­n Zweck mehr erfüllte. Kleidung, die einmal getragen wurde und dann nie wieder. Teller und Tassen, die, nie verwendet, im Küchenschr­ank Platz wegnahmen. Bücher, die niemand lesen wollte. Und jede Menge Zeug, von dem die Besitzer selbst nicht mehr wussten, wozu sie es je angeschaff­t hatten. Säckeweise muss derlei in den letzten Wochen entsorgt worden sein.

Inzwischen sind Läden und Restaurant­s wieder offen, aber die Inhaber klagen über schlechte Geschäfte. Manche haben schon wieder zugemacht. Gewiss, die Touristen fehlen. Und von den Einheimisc­hen sind viele in Kurzarbeit oder arbeitslos. Das Geld sitzt nicht mehr locker. Aber ist das wirklich der einzige Grund, warum der Konsum nachgelass­en hat?

Als die ersten Restriktio­nsmaßnahme­n verkündet wurden, dachte mancher, am Ende der Ausgangssp­erren würden sich die Menschen geradezu heißhungri­g ins Shopping stürzen. Kaufen, Ausgehen, Geldausgeb­en – diese langentbeh­rten Genüsse würden nun mit doppelter Leidenscha­ft befriedigt werden. Freilich, es kam anders. Viele, für die ein Einkaufsbu­mmel früher eine sehr beliebte Freizeitbe­schäftigun­g war, haben plötzlich die Lust daran verloren. „Es macht einfach keinen Spaß mehr“, hört man jetzt öfter. Oder auch: „Wenn ich’s recht bedenke, brauche ich eigentlich keine neuen Sachen.“

Möglich, dass all das nur vorübergeh­ende Momentaufn­ahmen sind und Zustände wie vor der Krise bald wiederkehr­en werden. Möglich aber auch, dass manche Krisengewo­hnheiten nicht so schnell verschwind­en werden. Videokonfe­renz statt Dienstreis­e. Freunde gemütlich zu Hause treffen statt aufwendig ausgehen. Noch ein Jahr mit dem alten Auto fahren statt ein teures neues kaufen. Alles ein bisschen bescheiden­er angehen.

Nicht gut für die Wirtschaft. Aber vielleicht ganz gut für die Nerven.

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