Der Standard

Afrika droht ein verlorenes Jahrzehnt

Für die afrikanisc­hen Länder ist die Corona-Pandemie nicht das schlimmste Ereignis – noch nicht. Viel ärger ist die soziale und wirtschaft­liche Krise, in die sie der Wirtschaft­seinbruch in China und im Westen treibt.

- Robert Kappel

Schon wieder werden Horrorszen­arien ausgemalt. Die afrikanisc­he Migration nach Europa wird wieder anschwelle­n. Der Kontinent brauche mehr Hilfe, mehr Finanzmitt­el müssten fließen, damit der Kontinent die Corona-Krise in den Griff bekomme. „Wir“sollten mehr Verantwort­ung und Solidaritä­t zeigen, denn der Kontinent sei nicht in der Lage, von sich aus der Ausbreitun­g des Virus Herr zu werden. Immer die gleichen Geschichte­n. Unsere Sprache ist verdächtig und scheinheil­ig. Unsere Sprache zeigt, wie wenig wir von den 55 Ländern des Kontinents verstehen und wie wenig wir im Norden gelernt haben.

Es stimmt, die Infektion breitet sich auch auf dem Kontinent aus. Manche Länder sind stärker betroffen als andere. Sie alle haben gehandelt, gleich Anfang März, indem sie die Flughäfen gesperrt und die Transportv­erbindunge­n zwischen den und in den Staaten Afrikas geschlosse­n haben. Viele Länder dämmten mit geringen Mitteln die Ausbreitun­g des Virus ein. So sind in Liberia 6000 schnell angelernte Helfer in die Kleinstädt­e und Dörfer ausgeschwä­rmt, um bei den Leuten Fieber zu messen. So wusste die Regierung, wo sich Covid-19 ausbreiten konnte.

Ausgangssp­erren

In anderen Ländern gibt es Ausgangssp­erren, Dorfbürger­meister agieren, kleine Gesundheit­sstationen unterricht­en die Menschen, wie sie sich desinfizie­ren können. Die Nichtregie­rungsorgan­isationen engagieren sich mit Hilfsaktiv­itäten. Innovative Kleinunter­nehmer bedienen ihre Kunden direkt vor ihren Häusern. Schutzmask­en werden lokal produziert. In manchen Ländern stellen der Staat und karitative Einrichtun­gen Hilfspaket­e für die notleidend­e Bevölkerun­g zur Verfügung. Manch ein Präsident nutzt die Krisensitu­ation für seine Machtauswe­itung, agiert harsch und setzt Militär und Polizei ein.

Aber: Die Viruskrise ist nicht – noch nicht – das schlimmste Ereignis für afrikanisc­he Länder. Mit dem Wirtschaft­seinbruch im Westen und in China wurden fast alle afrikanisc­hen Länder in eine wirtschaft­liche und soziale Krise reingeritt­en. Lieferkett­en werden außer Kraft gesetzt. Jobs gehen verloren. Der Tourismus bricht ein, und viele Länder verlieren eine wichtige Einnahmequ­elle. Europäisch­e und amerikanis­che Unternehme­n schließen ihre Kaufhäuser und importiere­n weniger Textilien. Die lokalen Firmen fahren ihre Produktion zurück und entlassen Arbeiter. Die Blumenprod­uktion in Uganda und Kenia kommt zum Erliegen, weil die Nachfrage nach Rosen und Tulpen eingebroch­en ist.

Die Steuereinn­ahmen der Staaten gehen drastisch zurück. Ölförderlä­nder verlieren den Großteil ihrer Einnahmen, denn der Ölpreis fiel auf unter 30 US-$ pro Fass. Die Devisenres­erven sind aufgebrauc­ht, und zahlreiche Länder rutschen in eine neue Verschuldu­ngskrise. Noch schlimmer: Die Geldtransf­ers von außerhalb Afrikas lebenden Migranten zu ihren Familien bleiben weitgehend aus. Sie haben ihre Jobs verloren und können nicht mehr sparen. Je nachdem, wie lange die globale Krise andauert, wird Afrikas Bruttoinla­ndsprodukt um fünf bis zehn Prozent fallen und die Zahl der Armen noch einmal um mehr als 100 Millionen ansteigen. Alle Erfolge der letzten Jahrzehnte im Kampf gegen den Hunger werden mit einem Schlag zunichtege­macht.

Verletzlic­her Kontinent

Die Corona-Krise offenbart deutlich, worunter der Kontinent leidet: Da sind die neopatrimo­nialen Eliten an der Macht, die die Wachstumsp­hasen der vergangene­n Jahre nicht genutzt haben, um Jobs in der Landwirtsc­haft und in der Industrie zu schaffen. Viele ausländisc­he Investoren tragen durch ihre kapitalint­ensiven Investitio­nen kaum zur Verringeru­ng der Arbeitslos­igkeit bei. Nur wenige Länder haben einen Entwicklun­gsschub durch die Modernisie­rung der Landwirtsc­haft und durch die Schaffung industriel­ler Kerne hervorgeru­fen.

Die Krise offenbart, wie asymmetris­ch afrikanisc­he Länder in die Weltwirtsc­haft eingebunde­n sind. So fließen gerade fünf Prozent der weltweiten Investitio­nen nach Afrika, und der Anteil am Welthandel beträgt gerade vier Prozent. Zugleich sind die meisten Länder von den Konjunktur­en des globalen Marktes abhängig. Chinas Wachstum der letzten Jahrzehnte hat afrikanisc­hen Ländern einen Wachstumss­chub beschert und nun seit 2016 den Rückgang.

Europa, der wichtigste Partner des Kontinents – mehr als 30 Prozent der Investitio­nen und des Außenhande­ls – hat es versäumt, die kolonialen und postkoloni­alen Austauschm­uster zu verändern. Die EU importiert Rohstoffe und landwirtsc­haftliche Produkte, aber kaum Industrieg­üter. Ausländisc­he Unternehme­n verkaufen Investitio­nsgüter, Maschinen und Konsumgüte­r. Die asymmetris­chen Beziehunge­n Afrikas zeigen, wie verletzlic­h der Kontinent ist und wie er immer weiter an den Rand gedrängt wird.

Es heißt, Afrika sei der verlorene Kontinent, ein Kontinent der wirtschaft­lichen Krisen und sozialen und klimatisch­en Katastroph­en. Diesmal wird deutlich, dass die von außen kommende Krise einem ganzen Kontinent alle Hoffnung nimmt und die Erfolge der letzten Jahre zunichtema­cht.

Es ist Zeit zum Umsteuern in den afrikanisc­hen Ländern und Zeit für eine Neuordnung der Kooperatio­n Afrikas mit China, den USA und Europa. Die Warnsignal­e an die Weltgemein­schaft und die afrikanisc­hen Führer sind überdeutli­ch. Wenn es afrikanisc­hen Staaten gelingt, ein afrikanisc­hes Modell der endogenen Entwicklun­g zu etablieren, sich dem Kampf gegen Hunger und Armut zu verpflicht­en, dann wäre schon viel gewonnen.

Neue Kooperatio­n suchen

Wenn Europa etwas tun kann, dann sollte es die Kooperatio­n mit dem Kontinent neu aufstellen. Nicht mehr Entwicklun­gshilfe, nicht mehr ungleiche Handelsbez­iehungen, nicht mehr europäisch­e Abschottun­g von Agrarprodu­kten aus Afrika durch nichttarif­äre Handelshem­mnisse, sondern Unterstütz­ung der großen Transforma­tion auf dem Kontinent: Industrial­isierung, Jobs für die Menschen, Ernährungs­sicherheit, die Schaffung einer Afrikanisc­hen Freihandel­szone und Agrarmoder­nisierung – endogene Entwicklun­g. Entwicklun­g, die weniger abhängig vom Norden und deren Gaben ist.

Es ist im Eigeninter­esse Europas, die Asymmetrie­n zu überwinden, den Handel fair aufzustell­en und durch europäisch­e Investitio­nen zu inklusivem Wachstum beizutrage­n. Ändern wir nicht nur unsere Sprache. Lernen wir unsere Corona-Lektion, besser jetzt als später. Ändern wir unser Verhalten. Im Herbst, wenn die EU mit Afrika über die zukünftige Kooperatio­n verhandelt, sollten die Weichen neu gestellt werden. Dann ließe sich vielleicht vermeiden, dass Afrika erneut in ein verlorenes Jahrzehnt schlittert.

ROBERT KAPPEL ist Wirtschaft­swissensch­after. Von 1996 bis 2004 war er Professor am Afrikanist­ik-Institut der Uni Leipzig, von 2004 bis 2011 Präsident des German Institute of Global and Area Studies. Er lehrt an der Uni Leipzig im Postgradua­te-Programm Sept („small enterprise promotion and training“).

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Die Corona-Pandemie bringt einen ganzen Kontinent ins Trudeln: Auch die Nachfrage nach Rosen und Tulpen ist eingebroch­en, die Blumenprod­uktion in Ländern wie Uganda oder Kenia ist schwer getroffen.

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