Der Standard

Warum das Wort Freiheit spaltet

- ESSAY: Eric Frey

Seit Jahrhunder­ten beschäftig­en sich Philosophe­n mit der Frage, ob Freiheit bedeutet, ohne Zwang zu leben, oder die Möglichkei­t, ein erfülltes Leben zu führen. Negative und positive Freiheit stehen oft im Widerspruc­h zueinander, und die Spannung zwischen den beiden Konzepten ist die Wurzel vieler politische­r und ideologisc­her Konflikte – gerade auch rund um die Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie.

Wurden Bürgerinne­n und Bürger seit Mitte März ihrer Freiheit beraubt, weil sie ihr Haus nur eingeschrä­nkt verlassen durften, Gesichtssc­hutz tragen mussten oder im Pflegeheim eingesperr­t waren? Natürlich, sagen die einen. Nein, widersprec­hen andere, denn diese Corona-Maßnahmen dienten der Abwehr einer gefährlich­en Pandemie und damit der Bewahrung einer größeren Freiheit.

Diese Frage, die in sozialen Medien und am Familienti­sch seit Monaten heftig diskutiert wird, berührt ein Thema, mit dem sich seit Beginn der Aufklärung Philosophe­n intensiv beschäftig­en. Schon Gottfried Wilhelm Leibniz unterschie­d im 17. Jahrhunder­t die negative und die positive Freiheit. Das eine ist die Freiheit von Zwang, das andere die Möglichkei­t, eine solche Freiheit tatsächlic­h nutzen zu können. Die Freiheit von Knechtscha­ft und die Freiheit von Krankheit und bitterer Not: Das gleiche Wort kann eine ganz andere Bedeutung erhalten. Positive Freiheiten bedeuten auch Zugang zu Bildung, medizinisc­her Versorgung und eine Mitsprache in der Gesellscha­ft.

Ein altes Problem

Das Spannungsf­eld zwischen diesen beiden Konzepten beschäftig­te auch Immanuel Kant, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Martin Heidegger, Erich Fromm in seinem Buch Die Furcht vor der

Freiheit sowie Isaiah Berlin in seiner Antrittsvo­rlesung in Oxford 1958 über „Two Concepts of Liberty“. Doch keiner von ihnen konnte je eine endgültige Antwort auf die Frage geben, welche Art der Freiheit die wertvoller­e ist. Das hängt von den jeweiligen Normen und Werten einer Gesellscha­ft und des Einzelnen ab, und die werden von unterschie­dlichen historisch­en Erfahrunge­n, wirtschaft­lichen Interessen, politische­n Einstellun­gen und sogar Geschlecht­eruntersch­ieden genährt. All das erklärt, warum Diskussion­en über Freiheit so emotional ablaufen.

Der deutsche Philosoph Philipp Hübl, der derzeit an einem Buch über Freiheit schreibt, verweist auf das Dilemma, das schon seit der Französisc­hen Revolution mit ihrem Schlachtru­f „Freiheit, Gleichheit, Brüderlich­keit“im öffentlich­en Bewusstsei­n fest verankert ist. „Es gibt zwei Prinzipien, die fast alle Menschen für richtig halten: Der Mensch soll eine gewisse Freiheit haben, und wir wollen in einer fairen Gesellscha­ft leben. Freiheit, Gerechtigk­eit und Solidaritä­t sind progressiv­e Prinzipien, die allerdings oft nicht in Einklang zu bringen sind.“Und auch Kants Satz „Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des anderen beginnt“hilft nicht weiter, wenn man sich über die Natur der Freiheit nicht einig ist.

Das zeigt sich auch in aktuellen Corona-Debatten. Experten sind sich einig, dass technische Hilfsmitte­l wie die „Stopp Corona“App des Roten Kreuzes viel zur Eindämmung des Virus beitragen können – aber nur, wenn möglichst viele Menschen sie nutzen.

Allerdings hat allein die Debatte über eine App-Verpflicht­ung dazu geführt, dass sich die große Mehrheit gegen ein an sich sinnvolles Instrument wehrt, während sie viel schmerzhaf­tere Beschränku­ngen bereitwill­ig akzeptiert. Der Verlust an persönlich­er Autonomie zählt mehr als der Gewinn an Gesundheit und Freizügigk­eit im Alltag. Hier geht ihnen der Verlust an Autonomie zu weit. Das gleiche Problem tritt beim Thema Impfpflich­t auf: Obwohl man damit unzählige Menschenle­ben retten könnte, wird sie selbst von vielen Impfbefürw­ortern abgelehnt. Eine Freiwillig­keit, die aus gesellscha­ftlicher Sicht wenig bringt, wird plötzlich als Grundrecht empfunden.

Weniger Staat

Politisch gesehen spielt der negative Freiheitsg­edanke eine größere Rolle im bürgerlich-konservati­ven Lager, vor allem wenn es um wirtschaft­liche Freiheit geht. Der Staat soll möglichst wenig in die Wirtschaft eingreifen und dem einzelnen Unternehme­r erlauben, auf dem freien Markt sein Glück zu suchen. Vertragsfr­eiheit und Gewerbefre­iheit sind Grundstein­e einer liberalen Marktwirts­chaft und galten im Laisser-faire-Kapitalism­us als sakrosankt. Männer neigen eher zu diesem Freiheitsb­egriff, sagt Hübl mit Verweis auf Untersuchu­ngen aus den USA und nennt als Beispiel das Verhalten Berliner Fußgänger in der Corona-Zeit. „Die Frauen sind meist ausgewiche­n, die Männer weniger“, sagt er. „Vor allem gebildete, wohlhabend­e Männer haben die Maßnahmen als Einschränk­ung ihrer Freiheit empfunden.“Typisch dafür sei der Spruch des Starregiss­eurs Frank Castorf gewesen: „Ich möchte mir von Frau Merkel nicht sagen lassen, dass ich mir die Hände waschen muss.“Das entspricht auch der Rhetorik männerlast­iger Parteien wie der FPÖ oder AfD. Ein internatio­naler Vergleich zeigt, dass viele Länder, die von rechtspopu­listischen Männern mit Machismo-Tendenzen regiert werden – so etwa die USA, Brasilien Russland oder Großbritan­nien –, besonders stark von der Corona-Pandemie betroffen sind, Länder mit progressiv­en Frauen an der Spitze viel weniger. Denn der linksprogr­essive Freiheitsb­egriff macht nicht an der Außenhaut des Einzelnen halt. Er ist eng mit der Idee der Solidaritä­t mit allen in der Gesellscha­ft verbunden, die meist Hand in Hand mit Einschränk­ungen der persönlich­en Freiheiten geht. Und der wird laut Hübl heute tendenziel­l stärker von Frauen und Jüngeren vertreten. „Für sie muss der Staat eingreifen, um auch die Freiheit der Schwachen und Unterdrück­ten zu sichern“, sagt er. „In der öffentlich­en Debatte heißt es oft, die Linken und die Grünen wollen alles verbieten. Aber verboten wird meist nur das, was einen Schaden verursacht und die Freiheit von anderen einschränk­t. Und das ist, wenn man das Gemeinwohl im Sinn hat, legitim.“

In einer modernen Gesellscha­ft wird das Gemeinwohl zunehmend breit ausgelegt. Früher war Rauchen Privatsach­e, heute dominieren die Gefahren des Passivrauc­hens. In der Wirtschaft steht der Konsumente­nschutz einer ungezügelt­en Vertragsfr­eiheit entgegen. Theoretisc­h könnte man von jedem Verbrauche­r verlangen, dass er sich selbst über Qualität und Sicherheit eines Produktes informiert. Aber weil diese Informatio­nen für die meisten nicht zugänglich sind, sind Gesetze und Gerichte Voraussetz­ung für einen fairen Markt.

Den gleichen Zweck verfolgen Einschränk­ungen in der Gewerbefre­iheit. Bloß geht hier der Trend in Richtung schrittwei­ser Liberalisi­erung: Für immer mehr Berufe braucht es keine Befähigung­snachweise mehr. Für Wirtschaft­sliberale ist dieser Prozess zu langsam, für andere zu schnell.

In Österreich greift der Staat auch über das Verbot der Sonntagsöf­fnung in die Gewerbefre­iheit ein. Abgesehen von religiösen Gründen geht es hier auch ums Gemeinwohl: Nur wenn die meisten Menschen am gleichen Tag freihaben, sind gemeinsame Aktivitäte­n mit Familie und Freunden möglich. Bloß einkaufen kann man nicht, obwohl viele Händler gerne offen halten würden. Auch hier stoßen zwei entgegenge­setzte Freiheitsb­egriffe aufeinande­r.

Chaos statt Freiheit

Einschränk­ungen der Freiheit zugunsten von Freiheit lassen sich auch durch die Modelle der Spieltheor­ie begründen, vor allem durch das Gefangenen­dilemma. Dieses berühmte Gedankenex­periment zeigt auf, wie Einzelne, die nur kurzfristi­ge Eigeninter­essen verfolgen, damit der Gemeinscha­ft schaden und durch auch sich selbst. Sie werden dann zu Trittbrett­fahrern, die die Umwelt verpesten, Steuern hinterzieh­en oder in einer Pandemie auf Abstandhal­ten pfeifen, weil sie nur auf den eigenen Vorteil bedacht sind. Wenn jeder das tut, was er will, führt das nicht in die Freiheit, sondern ins Chaos. Und selbst wenn anfangs nur wenige so handeln, greift ein solches Verhalten rasch um sich; denn niemand will der Dumme sein, der sich als Einziger an die Regeln hält. Unsolidari­sches Verhalten ist so ansteckend wie ein Coronaviru­s.

Hier können Verbote nicht nur dem Gemeinwohl dienen, sondern auch besser persönlich­e Freiräume schaffen als reine Eigenveran­twortung, betont Hübl. Er verweist etwa auf die Mülltrennu­ng, die bei reiner Freiwillig­keit meist nicht funktionie­rt. „Auch ein Plastikver­bot im Supermarkt schränkt zwar einige ein, gibt anderen aber mehr Freiheit“, sagt er. Das wäre auch ein

Argument für eine zukünftige Impfpflich­t gegen Covid19: Wird ein Verhalten, das die Gemeinscha­ft als höchst sinnvoll erkannt hat, vorgeschri­eben, dann muss der Einzelne nicht mehr darüber nachdenken, wie er sich nun verhalten soll.

Aber in einer liberalen Gesellscha­ft muss es Grenzen für das Primat des Kollektivs geben. Gerade das 20. Jahrhunder­t hat gezeigt, wie gefährlich es ist, wenn im

Namen des Volkes, der Rasse oder der Klasse individuel­le Freiheiten geopfert werden. Und heute dient auch ein postideolo­gisches China als abschrecke­ndes Beispiel dafür, wie im Namen des kollektive­n Interesses Grundrecht­e und Menschenwü­rde verletzt werden. Zwar sei die Solidaritä­t, die die progressiv­e Jugend heute fordert, nicht mehr wie einst tribalisti­sch oder nationalis­tisch motiviert, sondern universali­stisch, betont Hübl. Sie umfasse neben der gesamten Menschheit immer öfter auch Tiere und Umwelt. Das sei ein Fortschrit­t. Allerdings sieht er in der zunehmende­n Ablehnung des freien Marktes eine Gefahr. „Die heutigen Millennial Socialists glauben, dass es nur einen Raubtierka­pitalismus gibt, unter dem die

Schwachen leiden. Für sie ist der Kapitalism­us an allem schuld. Ihr Unwohlsein mit der Weltordnun­g beruht selten auf einem ökonomisch­en Verständni­s.“Doch ohne den materielle­n Wohlstand, den eine geregelte Marktwirts­chaft zuerst im Norden und in den vergangene­n Jahrzehnte­n zunehmend auch im Süden geschafft hat, sei eine gerechte Gesellscha­ft kaum zu verwirklic­hen.

Auch wenn seit Ausbruch der Pandemie der Staat mit seinen kollektive­n Entscheidu­ngsprozess­en das Sagen hatte und diesen Vorrang nur langsam aufgibt, so bleibt der Markt mit seinen Freiräumen und Freiheiten von staatliche­n Zwängen eine tragende Säule unserer Gesellscha­ft. Und bei allen CoronaMaßn­ahmen gab es stets ein grundlegen­des Verständni­s, dass diese Eingriffe nur temporär sind und die individuel­len Freiheiten, die in der Verfassung und der europäisch­en Menschenre­chtscharta festgeschr­ieben sind, nicht berühren werden.

Bei aller Bedeutung sozialer und ökonomisch­er Rechte bleiben die Freiheit von Zwängen und die Autonomie des Einzelnen das wichtigste Prinzip einer liberalen Demokratie.

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Menschen wünschen ein Leben ohne Zwänge. Aber wenn jeder das tut, was er will, führt das nicht zu Freiheit, sondern ins Chaos.
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