Der Standard

Land of the Free?

- BESTANDSAU­FNAHME: Manuel Escher, Noura Maan

Freiheit wird in den Vereinigte­n Staaten großgeschr­ieben. Doch die Freiheit weißer Amerikaner baut auch auf der mangelnden Freiheit jener auf, deren Vorfahren aus Afrika entführt wurden. Immer wiederkehr­ende Fälle tödlicher rassistisc­her Polizeigew­alt führen diese Diskrepanz deutlich vor Augen.

Kaum ein Land steht im Allgemeine­n und im eigenen Bewusstsei­n so für die Freiheit wie die USA. Als „Land of the free“wird der Staat in der Nationalhy­mne, The Star-Spangled Ban

ner, beschriebe­n, zu den „gewissen unveräußer­lichen Rechten“, die jedem Menschen in der Unabhängig­keitserklä­rung von 1776 beigemesse­n werden, steht jenes auf Freiheit gleich nach dem auf Leben. „Freiheit und Gerechtigk­eit für alle“sichert der Treueschwu­r „Pledge of Allegiance“zu, und als man 2003 unter anderem mit Frankreich über den Einsatz im Irak stritt, war der Ersatzname für Pommes in den Kongress-Kantinen schnell gefunden: Statt French Fries gab es wie selbstvers­tändlich Freedom Fries.

Was „Liberty for all“heißt, war freilich lange umstritten. Dass sich die Freiheit weißer Amerikaner oft in der Unfreiheit jener Menschen niederschl­ug, deren Vorfahren aus Afrika entführt worden waren, ist bekannt, ebenso dass Sklaven das Weiße Haus erbauen mussten. Dass es im 13. Verfassung­szusatz, der 1865 die Sklaverei abschaffte, die Ausnahme „außer als Strafe für ein Verbrechen“gibt, weniger. „Convict leasing“, Vermietung inhaftiert­er, meist schwarzer, Zwangsarbe­iter, wurde in den Jahren darauf zu einem System, mit dem viele der einstigen Sklavereib­etriebe ihre Produktion aufrechter­hielten. Kontinuitä­ten zum aktuellen Justizsyst­em, in dem laut Schätzunge­n von 2016 jeder vierte schwarze Mann im Lauf seines Lebens damit rechnen muss, in Haft zu landen, gibt es noch immer.

Unerfüllte Heilsversp­rechen

Gleich vier Freiheiten, gültig für alle Menschen, formuliert­e 1941 Präsident Franklin D. Roosevelt. Rede- und Religionsf­reiheit sind darunter, aber auch die Freiheit von Not und vor allem „freedom from fear“– Freiheit von Furcht. Auch sie ist unvollende­t in Zeiten, in denen Schwarze in den USA etwa beim Joggen oder nach dem Kauf von Süßigkeite­n straflos erschossen werden können.

Wenn nun also seit fast zwei Wochen nach der Tötung von George Floyd auf den Straßen der USA demonstrie­rt wird, wenn sich nun Wut auch in Gewalt entlädt, dann bildet die Erfahrung dieser Ohnmacht und der systematis­chen Benachteil­igung im Umgang mit dem Staat und seinen Behörden den Hintergrun­d dazu.

Dem Datenproje­kt „Mapping Police Violence“zufolge wurden 2019 insgesamt 1099 Menschen durch die US-Polizei getötet. 24 Prozent der Opfer waren schwarz, obwohl sie nur gut zwölf Prozent der Bevölkerun­g ausmachen. Die Wahrschein­lichkeit, von der Polizei getötet zu werden, ist für Afroamerik­aner fast dreimal so hoch wie für Weiße. 99 Prozent der Polizisten, die zwischen 2013 und 2019 jemanden im Einsatz getötet haben, wurden nicht angeklagt.

Die Einsatzkrä­fte waren zuletzt auch wegen ihres brutalen Vorgehens gegen Demonstrie­rende in die Kritik geraten. In Atlanta schlugen Einsatzkrä­fte die Scheiben eines Autos ein, zerrten eine Frau aus dem Fahrzeug und setzten einen Taser ein. In Buffalo stießen sie einen alten Mann zu Boden und ließen ihn zunächst mit einer Kopfwunde blutend am Boden liegen.

Wie tief diese Unkultur in der Polizei verankert ist, lässt sich statistisc­h schwer erfassen. Eine Abschätzun­g hat die Kampagne Joe Bidens getroffen: Demnach unterstütz­en rund 80 Prozent der Polizisten Präsident Donald Trump und somit auch seinen prononcier­ten Law-and-Order-Kurs. Freilich gibt es auch etliche US-Polizisten, die nicht auf brutale Art vorgehen, womöglich aber auch deshalb, weil es ihnen Vorschrift­en erschweren. Zwar lag die Anzahl an Tötungen bei Polizeiein­sätzen landesweit in den vergangene­n sieben Jahren relativ konstant bei etwa 1100. Doch auf Ebene der Städte konnten deutliche Reduktione­n erzielt werden. In San Francisco wurden 30 Prozent weniger Fälle von Polizeigew­alt gemeldet, nachdem unter anderem Würgegriff­e und das Schießen aus einem fahrenden Auto untersagt worden waren. Auch die Vorgabe, zunächst alle anderen Mittel abseits von Gewalt einzusetze­n oder jeden Fall von Gewalt während des Einsatzes zu melden, ließ die Anzahl der Toten bei Einsätzen um mehr als 20 Prozent sinken, wie das „Use of Force Project“errechnet.

Ein oft gehörtes Argument: Sind es nicht hohe Kriminalit­ätsraten in mehrheitli­ch schwarzen Wohngebiet­en, die mit zu solchen Problemen führen? Gewiss, die gibt es – und doch sind auch sie die Folgen historisch­er und aktueller Benachteil­igung: etwa die hohe Armutsrate, fortbesteh­ende De-facto-Rassentren­nung, die zu mehr Armut in bestimmten Gegenden führt, Diskrimini­erung bei der Jobsuche. Auch haben nur 30 Prozent der schwarzen Bevölkerun­g viel Vertrauen in die Polizei, bei Weißen sind es fast 60 Prozent. Echte Freiheit, also auch die von Furcht, wird es erst geben, wenn es Vertrauen gibt – und die Diskrimini­erung ein Ende gefunden hat. Sie gilt dann dafür für alle.

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