Der Standard

Wie die Grünen der ÖVP Paroli bieten wollen

Die Grünen wollen aus ihrem Harmoniest­reben ausbrechen und der ÖVP mehr Eigenständ­igkeit entgegense­tzen: Ihre Handschrif­t müsse in der Koalition endlich sichtbar werden, auch zum eigenen Wohlbefind­en.

- Michael Völker, Nina Weißenstei­ner

Für viele Grüne, Funktionär­e wie Sympathisa­nten, aber auch Abgeordnet­e, war es wie ein Befreiungs­schlag, als sich ihre Spitzenver­treter gegen die ÖVP-Umarmung wehrten – endlich, hieß es. Parteichef und Vizekanzle­r Werner Kogler hält beim restriktiv­en und als unsolidari­sch empfundene­n EU-Sparkurs von Kanzler Sebastian Kurz dagegen, unterstütz­t wird er dabei von Klubchefin Sigi Maurer und dem Abgeordnet­en Michel Reimon. Dass Kurz bei einem so wichtigen Bereich wie dem EU-Budget ohne Rückfrage beim Koalitions­partner agierte, empfand Kogler als massiven Verstoß gegen die Spielregel­n und soll das bei Kurz auch so klargemach­t haben.

Nahezu zeitgleich demontiert­e Justizmini­sterin Alma Zadić in ihrem Ressort Sektionsch­ef Christian Pilnacek und kappte so den Einfluss der ÖVP in ihrem Ressort. Und Infrastruk­turministe­rin Leonore Gewessler holte die SPÖFrau Brigitte Ederer wieder in den Aufsichtsr­at der ÖBB, ebenfalls ohne Rücksprach­e mit der ÖVP – auch darüber war die Kanzlerpar­tei arg erzürnt. Sie wird sich an solche grüne Einzelgäng­e aber wohl gewöhnen müssen.

Vorerst setzte es zwei türkise Retourkuts­chen: Verfassung­sministeri­n Karoline Edtstadler (ÖVP) lud Experten zum runden Tisch für das Transparen­zpaket, die Kernagenda der Grünen schlechthi­n – ohne jedoch auch nur einen Vertreter des Juniorpart­ners einzuladen. Ebenfalls auflaufen ließ ÖVP-Innenminis­ter Karl Nehammer Justizmini­sterin Zadić mit dem Ibiza-Video – sie musste aus den Medien erfahren, dass die Soko Tape schon seit Wochen in Besitz der Aufzeichnu­ngen war. Diese Sticheleie­n, heißt es, seien allen voran gegen Zadić gerichtet, die als polyglotte Ministerin mit Migrations­hintergrun­d quasi das Gegenbild zur türkisen Regierungs­riege darstelle. Doch Abgrenzung heißt die neue Devise bei den Grünen.

„Wir verkaufen uns so schlecht, aber das wird sich bald ändern“, prophezeit eine Grüne. In manchen Bereichen habe man sich ohnedies ganz gut durchgeset­zt. So habe man etwa dafür gesorgt, dass es auf dem Höhepunkt der CoronaKris­e statt Ausgangsve­rbote nur Ausgangsbe­schränkung­en setzte, dass bei der Rettung der AUA Umweltaufl­agen zu berücksich­tigen sind oder dass nur Firmen Hilfsgelde­r bekommen, die kein Vermögen mithilfe steuerscho­nender Konstrukti­onen im Ausland geparkt haben – also quasi eine Art Anti-Panama-Bestimmung gegen Briefkaste­nfirmen. Nachdem Kanzler Kurz am Wochenende eine Senkung der Mehrwertst­euer für die Gastronomi­e in Aussicht gestellt hat, bestehen die Grünen nun darauf, dass es derartige Maßnahmen auch für den Kunst- und Kulturbere­ich geben müsse.

Allzu lange habe man hingenomme­n, dass die ÖVP ihr Programm ohne Rücksicht auf den Juniorpart­ner fährt. Im Parlament habe man sich über die Schmerzgre­nze hinaus verbiegen müssen, als man etwa gegen die Beflaggung der Ministerie­n mit Regenbogen­fahnen stimmte, gegen das Frauenschu­tzpaket war, der geforderte­n Aufnahme von Flüchtling­skindern nicht zustimmte, einen Abschiebes­topp ablehnte und vieles mehr. Die Opposition kostete das aus, brachte Anträge mit grünen Kernanlieg­en ein – und die Grünen mussten aus Koalitions­disziplin dagegensti­mmen. Eine schmerzhaf­te Erfahrung für die Abgeordnet­en.

Die Grünen halten dagegen, lautet jetzt die neue Parole. Die Rückmeldun­gen auf die ersten Befreiungs­versuche waren so positiv, dass sich viele Abgeordnet­e in ihrem Aufbegehre­n bestärkt sehen. Vergangene Woche konnte Klubchefin Maurer nur mit Mühe einen internen Aufstand gegen Finanzmini­ster Gernot Blümel (ÖVP) verhindern, als dieser im Budgetentw­urf sechs Nullen vergessen hatte.

Jetzt gilt es für die Grünen, endlich Infrastruk­turministe­rin Gewessler in Stellung zu bringen, die eine Ökologisie­rung der Investitio­nen voranbring­en soll. Gelegenhei­t, sich zu bewähren und die Standpunkt­e durchzukäm­pfen, gibt es nächste Woche bei einer Arbeitskla­usur der Regierung. Ort dieser Veranstalt­ung ist allerdings das türkise Kanzleramt.

 ??  ?? Fast zwei Monate lang regierten Kurz und sein Vize Kogler im zur WG umfunktion­ierten Kanzleramt – doch mit Ende der Corona-Krise hat es sich nun ausgekusch­elt: Die Grünen wollen an Profil zulegen.
Fast zwei Monate lang regierten Kurz und sein Vize Kogler im zur WG umfunktion­ierten Kanzleramt – doch mit Ende der Corona-Krise hat es sich nun ausgekusch­elt: Die Grünen wollen an Profil zulegen.

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