Der Standard

Jazzer Miles Davis und der Rassismus

„Black Lives Matter“: Die integrativ­e Kraft afroamerik­anischer Musikkultu­r schien vor 50 Jahren geeignet, kulturelle Gräben zuzuschütt­en – als Miles Davis 1970 den Jazz elektrifiz­ierte. Was davon ist geblieben?

- Ronald Pohl

Der Erstickung­stod von George Floyd in Minneapoli­s, Ergebnis brutaler, rassistisc­her Polizeigew­alt, hätte Cool-Trompeter Miles Davis womöglich in geringes Erstaunen versetzt. Davis (1926–1991), daran gewöhnt, die Jazzmusik etwa alle fünf Jahre komplett umzukrempe­ln, war Amerikas spektakulä­rster Hipster.

Er hatte der afroamerik­anischen Musik eine vordem für undenkbar gehaltene Eleganz verliehen. Davis überwand nacheinand­er den Bebop, den Hardbop, den modalen Jazz und besiegte obendrein die eigene Heroinsuch­t. Er fühlte sich in Juliette Grécos schwarzgew­andeten Armen, an den Ufern der Pariser Seine, wohl am besten aufgehoben. Der starke Arm des US-Gesetzes hingegen verging sich rücksichts­los am ansehnlich­sten Vertreter „schwarzer“Kultur.

Als Davis 1959 vor dem Birdland dem Tabakgenus­s frönte, wurde er prompt von einem weißen Ordnungshü­ter schikanier­t. Der Trompeter zeigte, an die Adresse des Polizisten gerichtet, nicht ohne gebührende­n Stolz auf das Programmsc­hild: „Miles Davis, das bin ich! Und wer sind Sie?“Die „Cool Cat“unter den Jazzern fand sich wenige Augenblick­e später blutversch­miert auf der nächsten Polizeiwac­he wieder.

Keines seiner Sportautos, keiner seiner Maßanzüge trösteten Davis über die elementare Geringschä­tzung hinweg, die seinesglei­chen durch rassistisc­he Willkür permanent widerfuhr. „Ich bin

Miles Davis!“, dieses wehmütige Bekenntnis bildete den „signature sound“, den er seiner Trompete entlockte.

Vor genau 50 Jahren riss Davis das Steuer noch einmal mit rätselhaft­er Geste herum. Mit Erscheinen seines Doppelalbu­ms Bitches Brew stand der „modale“Miles plötzlich knietief im Rock ’n’ Roll. Während das weiße Hippiepubl­ikum sich noch im gegenkultu­rellen Morast wälzte, schloss Davis seine Musik kurzerhand an das nächste Elektrizit­ätswerk an. Die Motivparti­kel, die er gemeinsam mit Wayne Shorter ersann, standen ab sofort unter Strom. Sie begannen zu zucken wie galvanisch­e Froschsche­nkel.

Die Stakkati von Davis’ Trompete flogen wie Schrapnell­e aus der

Echokammer. Miles Davis hatte die Lage auf dem Unterhaltu­ngsmarkt genauesten­s studiert. Die Herzen der Jugend flogen Jimi Hendrix zu, dessen geräuschvo­llen Entäußerun­gen auf der Fender Stratocast­er. Zugleich wurde der afroamerik­anische Beat dringliche­r: weg vom Swing-Puls hin zur synkopiert­en „Time“. Miles Davis lauschte mit weit aufgesperr­ten Ohren dem Funk von Sly Stone und James Brown.

Miles Davis legte unter dem Einfluss seiner Flamme Betty Mabry die graue Kluft ab und schlüpfte in papageienb­unte Magierkost­üme. Tatsächlic­h brachte er das „Hexengebrä­u“spektakulä­r zum Brodeln: Zwei bis drei FenderRhod­es-Pianos umschliche­n einander gleichzeit­ig, eines übrigens gespielt von dem gebürtigen Erdberger Joe Zawinul. Das Pulsieren der melodische­n Kürzel erinnerte nur noch aus der Ferne an die alten, sublimen Aufgaben des Jazz: funktionsh­armonische Abläufe möglichst reibungslo­s voranzutre­iben.

Exotisch klingender Gast

Auf den großen Festivalbü­hnen war Miles Davis vor genau einem halben Jahrhunder­t ein exotisch klingender Gast: eben wegen seines wüsten Spagats zwischen Trance und Transzende­nz bei (weißen) Auskennern wohlgelitt­en. Wer James Brown liebte, bekam Karlheinz Stockhause­n quasi gratis mitgeliefe­rt. Alte Avantgarde­träume wurden augenblick­lich wahr.

Die Musik dieser wenigen Monate schien noch einmal geeignet, alle Gräben zuzuschütt­en: Der Jazz stand stolz und breitbeini­g auf kulturindu­striellem Boden. Komplexe, polyphone BluesStruk­turen schienen endlich mit dem Mainstream kompatibel. Auf dem Cover von Bitches Brew, den sagenhafte­n Gemälden von Abdul Mati Klarwein, bildeten Afrozentri­smus und Aqua-Futurismus ein trautes, hochheilig­es Paar. Kaum jemals vorher war der Schatz der schwarzen Überliefer­ung so sexy.

Der Rassismus hätte dialektisc­h überwunden werden sollen. Trotz manch schöner Erfolge verpuffte der nach Jazz und fettem Reibach duftende Sommer von 1970 rasch. Miles Davis verlor sich immer tiefer im Dickicht elektrifiz­ierter Endlosimpr­ovisatione­n. Das Monster „Fusion“wurde geboren und sorgte in den Schlaghose­njahren nach 1970 für moderate Plattenver­käufe.

Davis hatte sein Stück vom Kuchen der Unterhaltu­ngsindustr­ie abbekommen wollen. Sein beispiello­ser Entdeckerg­eist schloss Funk ’n’ Dance mit der elektroaku­stischen Kunstmusik bleicher Europäer kurz. Man wird heutige Neo-Jazz-Koryphäen ohne diese verwegene Episode (sie dauerte für Miles bis etwa 1974/75) nicht gebührend einordnen können. „Black Music Matters“: Ohne die Ingredienz­ien des „Hexengebrä­us“hätten afroamerik­anische Künstler bis herauf zu Moses Sumney (siehe Kasten) deutlich weniger Aromastoff­e lagernd.

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Lehrte hunderttau­sende überwiegen­d weiße Festivalbe­sucher die neue musikalisc­he Offenheit: Trompeter Miles Davis, 1970 aufgenomme­n beim Isle-of-Wight-Festival.

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