Demos mit gelockerter Abstandspflicht
Die derzeitigen Massenproteste gegen Polizeigewalt mitten in der Coronavirus-Krise werfen die Frage auf: Wie lassen sich das Recht auf Versammlungsfreiheit und die Pflicht zur Gesundheitsvorsorge vereinen?
Die Massenproteste gegen Polizeigewalt und für die Rechte von Schwarzen, die derzeit weltweit stattfinden, stürzen viele Länder in ein Dilemma: Wie lassen sich das Recht auf Versammlungsfreiheit mit der Pflicht zur Gesundheitsvorsorge in Zeiten der Coronavirus-Krise vereinen? Die Solidaritätskundgebungen für die Black-Lifes-MatterBewegung (BLM) nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd in den USA haben auch in Österreich einen Zustrom erreicht, den es schon lange nicht mehr bei Demonstrationen gab. 50.000 Teilnehmer zählte die Polizei am vergangenen Donnerstag in Wien. Sicherheitsabstände schmolzen naturgemäß dahin, viele waren zudem ohne Nasen-Mund-Schutz unterwegs.
Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) lud deswegen am Montagnachmittag zu einem runden Tisch. Mit dabei: Vertreter der Stadt Wien, der Wiener Exekutive, der Gesundheitsbehörde und Demo-Veranstalter aus der BLMBewegung. Bei Redaktionsschluss dieser STANDARD- Ausgabe lagen noch keine offiziellen Ergebnisse der Besprechung vor.
FPÖ drohte mit Anzeigen
Schon zuvor hatte die FPÖ angekündigt, Strafanzeigen gegen jene Politiker prüfen zu lassen, die an den Anti-Rassismus-Demonstrationen der vergangenen Tage teilgenommen haben. Das teilte FPÖ-Generalsekretär Michael Schnedlitz schon am Sonntag mit.
Ganz vor der Hand zu weisen sind etwaige Verstoße gegen die von der Regierung erlassenen Abstandsregeln nicht. In geschlossenen Räumen kann das Weglassen des berühmten Babyelefanten immer noch hohe Verwaltungsstrafen nach sich ziehen, im Freien gibt es mittlerweile einen bestimmten Lockerungsspielraum. Dennoch stellen Massenaufläufe ein potenzielles Risiko für die Übertragung des Virus dar.
Einen Grund zur Auflösung der jüngsten Demonstrationen sah der Wiener Landespolizeipräsident Gerhard Pürstl nicht. Die Polizei hätte nur einschreiten können, wenn die Gesundheitsbehörden entsprechende Maßnahmen getroffen hätte. Natürlich gelte im öffentlichen Raum die Abstandsregel von einem Meter, so Pürstl. Im Falle einer genehmigten Demonstration mit 50.000 Teilnehmern sei dies aber eine Verwaltungsübertretung, welche die Versammlung mit sich bringe – ähnlich wie das Betreten der Fahrbahn –, und daher kein Grund, die Versammlung aufzulösen.
Novelle des Epidemiegesetzes
Anders sei dies bei einer Demonstration Ende April gegen das Corona-Maßnahmenpaket der Bundesregierung gewesen. „Das war noch vor den Lockerungsverordnungen“, so Pürstl, und der Veranstalter damals hab eine Versammlung von fünf bis zehn Personen angemeldet und dann, als mehr Menschen kamen, „die Versammlung dann selbst nicht mehr im Griff gehabt". Durch die Novellierung des Epidemiegesetzes danach sei festgelegt worden, dass die Gesundheitsbehörden Auflagen für Versammlungen vorgeben können. „Wenn die Behörden dies nicht tun, kann die Polizei die Verwaltungsübertretung allein nicht dazu nützen, um die Versammlung aufzulösen“, erklärt Pürstl.
SPÖ-Chefin Pamela RendiWagner ist eine der Politikerinnen, die bei der BLM-Kundgebung waren und deshalb auf der Anzeigenliste der FPÖ stehen. RendiWagner betont aber, dass sie sowohl Abstand als auch Maskenschutz eingehalten habe – „im Gegensatz zu anderen Teilnehmern“, wie sie selbst sagt und deshalb grundsätzlich für „gewisse Sicherheitsmaßnahmen" bei Demonstrationen ist.
Der Wiener Vizebürgermeister Dominik Nepp (FPÖ) wiederum legt die Law-and-Order-Order seiner Partei sportlich aus: Wenn 50.000 Menschen gemeinsam auf die Straße dürften, sollten auch gleich wieder Stadien für Fans geöffnet werden. (simo)