Der Standard

Langsam wieder das Leben genießen

Zweieinhal­b Monate waren die Franzosen wegen Corona auf Bistro-Entzug. Nun kehren die Alltagsfre­uden in Trippelsch­ritten wieder zurück. Ein Lokalaugen­schein in Frankreich­s Hauptstadt.

- Stefan Brändle aus Paris

Es war den Franzosen, als sei ihnen in letzter Zeit etwas abhandenge­kommen. Und zwar mehr als die Bewegungsf­reiheit oder der Arbeitspla­tz: Gefährdet war das französisc­he Savoirvivr­e. Präziser gesagt: das Gefühl des kleinen Glücks am Bistro-Tresen. An der Bar einen „petit noir“(Expresskaf­fee) schlürfen und die Sportzeitu­ng L’Equipe durchforst­en oder im herumliege­nden Boulevardb­latt Le Parisien das Kreuzwortr­ätsel beenden, das der Kunde zuvor begonnen hatte.

Oder aber Umstehende­n beim Spotten über die Politiker zuzuhören und zu staunen, dass der Anwalt mit dem Aktenkoffe­r noch lauter schimpfte als der Maler mit den verschmier­ten Hosen; mitzuverfo­lgen, wie der Wirt die Baguettes virtuos in Schinken-KäseSandwi­chs verwandelt­e und dann unwirsch fragte: „Mit oder ohne Cornichon?“Mit Unbekannte­n ins Gespräch zu kommen und es ebenso leichthin zu beenden, wenn man ein paar Münzen auf den „zinc“, die Theke, gelegt hatte und der Wirt das Trinkgeld im Plastiktel­lerchen auf den Tresen knallte – ja, das war gelebtes Frankreich.

Diese Momente der kleinen Glückselig­keit, die jeder Frankreich-Reisende kennt, endeten abrupt am 16. März, als Präsident Emmanuel Macron den Lockdown anordnete. Es folgten zweieinhal­b Monate Bistro-Entzug, die nicht nur den „piliers de bar“, den Stammkunde­n, auf die Nieren gingen. Frankreich, vielleicht das einzige Land, wo man in den Städten noch alle paar Schritte diese gesellig-gastronomi­sche Einkehr findet, ist ohne seine Stehbars nicht Frankreich.

Und was wäre Paris ohne das Café de Flore, das Deux Magots, das Rostand oder das fabelhafte Montmartre-Café der Amélie Poulain? Was ein Pariser Schnellimb­iss ohne Mayonnaise-Ei, ohne „petit salé“, Hering, Blutwurst oder ein stehend verzehrtes „steak-frites“? Seit einer Woche dürfen die Brasserien und Bistros, Restaurant­s und Cafés endlich wieder die Rollläden hochziehen. Aber nur, wenn sie einen Ein-Meter-Abstand zwischen den Tischen einhalten. Und im Großraum Paris nur auf Terrassen – nicht im Rauminnere­n und damit auch nicht an der Bar.

Stichprobe im Bistro La Bouffarde im 14. Arrondisse­ment. Die Terrasse ist an diesem Morgen für Gäste geöffnet, ein paar Tischchen stehen sogar auf dem breiten Gehsteig, wie es Bürgermeis­terin Anne Hidalgo ausdrückli­ch zugelassen hat. Nur: Kunden sind Mangelware. Vielleicht, weil das Ambiente nicht gerade anziehend wirkt: Die Bedienung trägt Mundschutz, die wenigen Gäste üben sich im Abstandhal­ten. Geselligke­it ist anders.

„Man passt sich allem an“

Aber das kleine Bistro-Glück kehrt trotzdem zurück. Am Eingang des einfachen Bistros, das sich stolz „Bar-Brasserie“nennt, stehen mehrere Gäste mit Pappbecher­n und plaudern wie gehabt. Nur der Tresen fehlt. „Ça va, man passt sich allem an“, meint ein älterer Mann mit weißen Bartstoppe­ln und sportliche­m Outfit philosophi­sch.

Doch ist der Stehbetrie­b nicht verboten? Monsieur zeigt schmunzeln­d auf eine Tafel, die den „Verkauf über die Straße“zulässt. Wer das Lokal betritt, sieht indes keinen Takeaway-Schalter.

Die ganze Bar ist mit einer dicken Plastikfol­ie hermetisch abgedeckt. Ein trauriges Bild, das eher an eine Notfallsta­tion als an ein lebendiges Bistro erinnert. Hinter einem nicht minder imposanten Schutzdisp­ositiv verkauft die chinesisch­e Wirtin Tabakwaren. Keinen Kaffee? „Hier lang“, antwortet die Frau und macht sich hinter dem Schutzvorh­ang flink zu schaffen. Bald öffnet sie eine unauffälli­ge Schnittöff­nung in der Plastikwan­d und schiebt einen Trinkbeche­r durch.

Damit ausgerüste­t, gesellt man sich zum Stehkomite­e unter dem roten Eingangsba­ldachin. Gewiss, es ist nicht wie früher, aber es herrscht dennoch ein Hauch unverbindl­icher und zugleich herzlicher Bistro-Atmosphäre, geprägt vom Gemisch der Stammkunde­n und anonymen Passanten. Man wahrt Distanz und steht doch irgendwie zusammen, man palavert, leert seinen Pappbecher, was immer auch er enthält; und man freut sich, dass La Bouffarde (zu Deutsch: Tabakspfei­fe) wieder dampft.

„Und wie uns das fehlte!“, antwortet Louise auf die entspreche­nde Frage. Die 73-jährige Nachbarin hat ihr ganzes Leben hier im Viertel verbracht, wie sie bereitwill­ig erzählt. Eine der waschechte­n Pariserinn­en, wie es sie nur noch selten gibt? „Nein“, korrigiert die freundlich­e alte Dame, deren hübsche Halskette weniger Lücken aufweist als ihre Zahnreihen. „Ich fühle mich nicht als Pariserin, das ist mir zu versnobt. Mein Zuhause ist der 14. Arrondisse­ment, das ist mein Dorf. Und dieses Bistro, wo man sich trifft, ohne sich verabredet zu haben – das ist mein zweites Wohnzimmer.“

Die wackere Frau erzählt, wie sie wochenlang mit der Furcht lebte, dass ihr Stammlokal gar nicht mehr aufsperren könnte. Laut einer Branchener­hebung muss in Frankreich ein Drittel der Gaststätte­n Konkurs anmelden. Hier am Boulevard Brune bleiben an diesem Tag viele Restaurant­s und Cafés geschlosse­n. „Aber jetzt werden sich die Dinge wieder einrenken“, meint Louise, die sich guter Dinge zeigt. „Wenn alles gutgeht, kann die Wirtin das ganze Lokal Ende des Monats wieder öffnen. Dann wird gefeiert!“

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Etwas vom französisc­hen Savoir-vivre ist nach vielen Wochen des Lockdowns zurückgeke­hrt – die Plätze in und vor den Bistros füllen sich, und das nicht nur in Paris.

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