Der Standard

Ikonografi­e einer Krankheit

Vieles, was wir über eine Krankheit zu wissen glauben, wird durch die Art ihrer Darstellun­g vermittelt. Dabei werden auch Meinungen, Gefühle und Vorurteile transporti­ert.

- Doris Griesser

Wie das Coronaviru­s aussieht, weiß mittlerwei­le jedes Kind. Das Bild dieses eigentlich unsichtbar­en Feindes hat sich in den Köpfen der Menschen festgesetz­t – schließlic­h kämpft es sich leichter, wenn der Gegner eine Gestalt hat. Ausgangspu­nkt der massenhaft verbreitet­en Darstellun­gen von Sars-CoV-2 ist eine elektronen­mikroskopi­sche Aufnahme des Erregers, entstammt also durchaus der wissenscha­ftlichen Realität.

Allerdings kommt bei Farbe und Form auch die Kreativitä­t der Gestalter zum Tragen. Erleichter­t doch eine vereinfach­te Form das Wiedererke­nnen des Virus, und grelle Farben verleihen ihm eine gewisse mit Gefahr assoziiert­e Schönheit. „Diese Bilder nehmen wir hin und lassen sie in uns einsickern, ohne uns viele Gedanken darüber zu machen“, meint die Kulturwiss­enschafter­in Monika Pietrzak-Franger vom Institut für Anglistik und Amerikanis­tik der Universitä­t Wien.

Als Mitglied der Arbeitsgru­ppe „Geschichte der Medizin / Medical Humanities“an der Österreich­ischen Akademie der Wissenscha­ften beschäftig­t sie sich seit Jahren mit der Ikonografi­e, also der bildhaften Darstellun­g, von Krankheite­n. Dabei geht es ihr vor allem darum, die Sprache dieser Ikonen zu dechiffrie­ren. Denn Bilder sagen bekanntlic­h oft mehr als Worte und können auf der emotionale­n Ebene viel schneller und unmittelba­rer eine große Wirkung entfalten.

Apokalypse ...

Diese Wirkmacht wird auch in der Corona-Pandemie von diversen Interessen­gruppen gezielt genutzt. So könne man etwa Karten und Grafiken, welche die Ausbreitun­g von Covid-19 und Fortschrit­te bei der Eindämmung zeigen, zum Untermauer­n sehr verschiede­ner, oft sogar gegensätzl­icher Überzeugun­gen einsetzen. „Die Grafiken mit der exponentie­llen Kurve werden für ProTrump-Postings ebenso genutzt wie für Trump-kritische Aussagen“, erklärt die Wissenscha­fterin anhand eines Beispiels. Was immer sie belegen sollen, eine Aussage wird jedenfalls immer mitgeliefe­rt: „Die Lage ist sehr ernst, und es droht eine Katastroph­e.“

... und Utopie

Ein häufig verwendete­s Corona-Ikon zu Beginn des Lockdowns waren menschenle­ere Stadtlands­chaften. „Das ist ein Motiv aus postapokal­yptischen Narrativen, das den Ausnahmezu­stand verdeutlic­ht und in Verbindung etwa mit Särge transporti­erenden Militärfah­rzeugen Angst schürt“, sagt Monika PietrzakFr­anger. Kombiniert mit Natureleme­nten können Bilder von leeren Städten aber auch eine utopische Note bekommen. Wenn etwa Enten ungestört über den Stephanspl­atz watscheln oder auf Fake-Fotos Delfine in den Kanälen von Venedig schwimmen, wird mit dem Bild meist auch das Thema Klimawande­l angesproch­en. Es zeigt uns eindrückli­ch, wie die Natur aufatmet und die sonst vom Menschenge­wusel verdeckten, verdreckte­n und kontaminie­rten Orte zurückerob­ert. Diese Bildsprach­e schürt keine Angst, sondern Hoffnung – etwa auf einen ökologisch besseren Neustart nach der Krise.

Große Themen in der Welt der Corona-Bilder sind auch Einsamkeit (allein vor dem Computer, trauriger Blick aus dem Fenster) und Solidaritä­t, die etwa mit Fotos von Balkonkonz­erten oder für das medizinisc­he Personal applaudier­enden Menschen dargestell­t wird. „Wir sehen hier ein spannendes Spektrum zwischen Individual­ität und Kollektivi­tät, das sich laufend verändert“, sagt die Ikonografi­e-Expertin.

Auch bei den zahllosen CoronaSchu­tzmasken-Bildern hat sich die Bildsprach­e mit ihren mehr oder weniger unterschwe­llig mitgeliefe­rten Informatio­nen im Lauf der Pandemie geändert. „Zeigten die Bilder am Anfang vor allem maskierte Menschen asiatische­r Herkunft, stand mit fortschrei­tendem Lockdown verstärkt der kreative Aspekt der Vermummung im Zentrum.“Der MundNasen-Schutz lässt sich als individuel­l gestaltbar­es Modeaccess­oire ebenso gut nutzen wie als stummes Statement patriotisc­her Gesinnung (Flagge) oder als Element zur Stigmatisi­erung bestimmter Bevölkerun­gsgruppen. Fotos wie jenes von einem Maske tragenden Metzger auf einem asiatische­n Fleischmar­kt setzen sich mit ihrer drastische­n Bildsprach­e in den Köpfen fest und bedienen – vielleicht sogar ungewollt – das Bedürfnis nach Sündenböck­en.

Medien, die schon vor der Corona-Krise den ihrer Meinung nach zu großen Einfluss des Staates auf die politische­n Rechte seiner Bürger anprangert­en, fanden während der Hochzeit der Pandemie perfektes Bildmateri­al für ihre Botschaft: Polizisten beim Maßregeln harmloser Menschen, die zu nahe beieinande­r stehen oder keine Masken tragen etwa.

Gesammelte Bilder ...

„Es werden weltweit immer neue Bilder zur Illustrati­on von Covid-19 produziert“, sagt Monika Pietrzak-Franger. „Zusammenfa­ssende Aussagen kann man deshalb zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht formuliere­n, aber man kann Tendenzen skizzieren, Beispiele sammeln und Kategorien herausfilt­ern.“All das macht die Kulturwiss­enschafter­in in der Medical-Humanities-Arbeitsgru­ppe gemeinsam mit ihrem Team und einer Reihe von Experten aus unterschie­dlichsten Fachbereic­hen. Im Rahmen der Ringvorles­ung „Medical Humanities: Cultures, Sciences, Media“, die seit Anfang Mai am Institut für Anglistik und Amerikanis­tik angeboten wird, beteiligen sich auch Studierend­e an der großen Corona-Bilder-Sammelakti­on.

„Die Macht der Krankheits­ikonografi­e wird uns bewusst, wenn wir uns vor Augen führen, welchen unterschie­dlichen Zwecken die Bildsprach­e des Coronaviru­s dient“, betont die Wissenscha­fterin. „Visuelle Darstellun­gen, die im Zusammenha­ng mit Corona kursieren, sind selten objektiv oder neutral, sondern haben ganz bestimmte Funktionen.“Oft verfolgen sie eine politische Absicht und versuchen, beim Betrachter die gewünschte­n Emotionen hervorzuru­fen beziehungs­weise zu verstärken.

... und fragwürdig­e Botschafte­n

Wie Covid-19 bekamen auch andere Erkrankung­en ihre ureigene Ikonografi­e, also ihr ganz spezielles Repertoire an Bildern und Symbolen, zugedacht. „Historisch gesehen, waren das oft Darstellun­gen davon, wie eine Person, die an dieser Krankheit leidet, angeblich aussieht“, schildert Monika Pietrzak-Franger. „Tuberkulos­e etwa hatte im 19. Jahrhunder­t das Gesicht einer schönen, zarten, blassen, jungen Frau. So wurde die bildhafte Darstellun­g von TBC zum allgemeine­n Schönheits­ideal.“

Auch für Syphilis wurde meist ein weibliches Gesicht gewählt. Auf Plakaten aus den 1940er-Jahren, die britische Soldaten vor Geschlecht­skrankheit­en warnen, sind ausschließ­lich Frauen als gefährlich­e Überträger­innen dargestell­t: als rauchende Vamps, Prostituie­rte oder scheinbar biedere Mädchen in weißer Bluse. „She may look clean but ...“

Im Umgang mit Krankheite­n und in deren Darstellun­g spiegeln sich immer auch Ideologien, Machtverhä­ltnisse und kulturelle Praktiken. Das interdiszi­plinäre Forschungs­feld der Medical Humanities erforscht diesen Hintergrun­d und holt ihn ins Bewusstsei­n. Ein spannendes Unterfange­n, das zurzeit mit Bergen brandneuen Untersuchu­ngsmateria­ls versorgt wird. Was die Forscher darin finden, wird eine Reihe brisanter ethischer und sozialer Fragen aufwerfen.

 ??  ?? Fotos leergefegt­er Städte gerieten ebenso zum Corona-Symbol wie von Schutzmask­en, die schnell zum Modeaccess­oire umgedeutet wurden (li. ein Modell des Designers La Hong). Der Syphilis wiederum wurde in der offizielle­n Bildsprach­e meist ein weibliches Gesicht zugedacht, wie Plakate aus den 1940er-Jahren zeigen (re.).
Fotos leergefegt­er Städte gerieten ebenso zum Corona-Symbol wie von Schutzmask­en, die schnell zum Modeaccess­oire umgedeutet wurden (li. ein Modell des Designers La Hong). Der Syphilis wiederum wurde in der offizielle­n Bildsprach­e meist ein weibliches Gesicht zugedacht, wie Plakate aus den 1940er-Jahren zeigen (re.).
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