Der Standard

Einspruch, Herr Kurz!

Der Bundeskanz­ler sorgt als Parteichef einer „Europapart­ei“mit seiner Aussage, dass die Schweiz nicht an EU-Regeln gebunden sei, für Staunen.

- Stefan Brocza

Die Schweiz ist unter den Top-Staaten – auch weil sie nicht an EU-Regeln gebunden ist.“Diese Aussage stammt vom österreich­ischen Bundeskanz­ler und ist objektiv falsch. Nachzulese­n ist das Ganze im großen Sonntagsin­terview im Kurier, und es stellt sich eigentlich nur eine Frage: Warum verbreitet Sebastian Kurz dies?

Spätestens in seiner Zeit als Außen- und EU-Minister hätte ihm eigentlich auffallen müssen, dass es so etwas wie eine intensive Anbindung der Schweiz an die Europäisch­e Union gibt. Selbst bei einem völligen Desinteres­se am Thema bliebt nicht verborgen, dass die Schweiz durch ein ganzes Bündel von Abkommen faktisch am EU-Binnenmark­t teilnimmt.

Europäisie­rte Schweiz

Seit der Unterzeich­nung des Freihandel­sabkommens von 1972 hat die EU mit der Schweiz ein immer dichteres Netz an bilaterale­n Abkommen geschlosse­n. Zwischenze­itlich ist deren Zahl auf rund 130 angewachse­n. Dazu kommen noch weitere – rund 80 – multilater­ale Verträge, die ebenfalls die Beziehunge­n EU/Schweiz regeln.

Dass all diese Abkommen eine schrittwei­se rechtliche Anpassung und in der Folge eine immer größere Übernahme von Rechtsvors­chriften mit sich bringen, sollte selbst einem Studienabb­recher der Rechtswiss­enschaften klar sein. Langzeitst­udien sprechen gar von einer „Europäisie­rung der Schweizer Rechtsordn­ung“. Knapp die Hälfte aller Schweizer Gesetzesän­derungen der letzten Jahrzehnte bestanden darin, Schweizer Recht an EURecht anzupassen oder einfach die jeweiligen EU-Normen zu übernehmen. Dieselben Untersuchu­ngen zeigen, dass die Schweiz sogar in den Bereichen, in denen sie gar nicht verpflicht­et wäre, eine solche Anpassung durchzufüh­ren, dies trotzdem tut. Warum das passiert? Weil die EU der weitaus größte Handelspar­tner der Schweiz ist. Und wer mit der EU Geschäfte machen will, muss deren Standards, Normierung­en und Vorschrift­en übernehmen.

Aber nicht nur in den EU-Binnenmark­t ist die Schweiz längst weitgehend eingebunde­n. Durch eigene Schengen- und Dublin-Assoziieru­ngsabkomme­n nimmt die Schweiz auch voll am EU-Grenzregim­e und Asylwesen teil. Und schließlic­h ist die Schweiz auch noch zu regelmäßig­en Zahlungen in den EU-Haushalt verpflicht­et. Aktuell sind das rund zwei Milliarden Euro, die jährlich aus Bern nach Brüssel überwiesen werden. Anders wäre es auch gar nicht möglich, dass die Schweiz etwa an den jeweiligen EU-Forschungs­programmen teilnehmen kann.

Kein Widerspruc­h

All das hat der österreich­ische Bundeskanz­ler in seinem KurierInte­rview verleugnet. Warum er das getan hat, darüber kann man nur spekuliere­n, denn nachgefrag­t wurde nicht. Es scheint unter österreich­ischen Journalist­innen und Journalist­en kaum mehr üblich zu sein, erhaltene Antworten auf ihre Plausibili­tät hin zu überprüfen oder gar zu hinterfrag­en. In einem Akt kollektive­n Vorausgeho­rsams werden die Wortspende­n des Kanzlers dankend in Empfang genommen und abgedruckt.

Aber selbst in der eigenen Partei des Kanzlers – der sich immer noch als „Europapart­ei“gerierende­n ÖVP – regt sich kein Widerspruc­h. Keiner der sonst so „glühenden Europäer“getraut sich das Wort zu ergreifen und dem Kanzler und Parteichef zu widersprec­hen. Stattdesse­n werden seine zunehmend schriller werdenden Ausritte gegen die EU wohl oder übel zur Kenntnis genommen. Wer Wahlen gewinnt, darf sich offensicht­lich alles erlauben. Und auf diese Weise ermutigt, transferie­rt sich der Kanzler immer mehr in eine Art Mini-Donald-Trump. Der US-Präsident verdreht bekanntlic­h die Wahrheit, wie es ihm gerade passt, und seine Partei schweigt dazu. Bisher musste nur die FPÖ jeweils ein Bekenntnis zu Europa ablegen, um in die Bundesregi­erung zu kommen. Vielleicht muss man ein solches Bekenntnis in Zukunft auch von der ÖVP unter Kurz einfordern.

STEFAN BROCZA ist Experte für Europarech­t und internatio­nale Beziehunge­n.

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Irritiert: Kanzler Sebastian Kurz.

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