Der Standard

Widerspruc­h belebt die Koalition

Die Grünen brauchen mehr Selbstbewu­sstsein – Kanzler Kurz hält das aus

- Michael Völker

Die Grünen leiden an der ÖVP. Manchmal mehr, manchmal weniger. Ein Teil dieses Leidens war absehbar und eingeplant. Weltanscha­ulich sind die beiden Parteien auf unterschie­dlichen Planeten angesiedel­t, da muss es Reibungen geben. Manche Grüne hat in der Koalition dann doch überrascht, wie unnachgieb­ig die ÖVP darangeht, ihre Themen zu kommunizie­ren und umzusetzen – also bes denk leinen Koalitions­partner gar nicht gäbe. Sebastian Kurz hat den neuen grünen Freunden gleich einmal gezeigt, wo es langgeht–damit da keine Missverstä­ndnisse aufkommen.

Die Corona-Krise hat dann viel zugedeckt, wo es längst gegärt hat. Im Sinne des großen Ganzen haben alle zurückgest­eckt. Die Zusammenar­beit in der Regierung war sehr fokussiert, sehr intensiv, sehr gut abgestimmt. Jetzt, da diese Anspannung nachlässt, tritt bei den Grünen wieder stärker die Unzufriede­nheit zutage und auch das Bedürfnis, sich einbringen zu wollen. Auch wenn die Umfragen überrasche­nd gut sind, intern gärt es.

Es sei keine grüne Handschrif­t erkennbar, beschweren sich vor allem jene, die den Grünen nahestehen. Die Rückmeldun­gen aus den eigenen Netzwerken sind verheerend. In den Bereichen Menschenre­chte, Einsatz für Flüchtling­e, Integratio­n, Frauenrech­te, Umweltschu­tz, Tierschutz, europäisch­e Einigung tut sich nichts oder viel zu wenig, so lauten die Befunde. D as erste Aufbegehre­n kam intern wunderbar an. Als sich die Grünen gegen den als unsolidari­sch empfundene­n EU-Kurs von Kanzler Kurz wehrten, als im Justizress­ort und beiderÖBB Personal entscheidu­ngen fielen, die derÖVP nicht gefielen und vielleicht sogar gegen sie gerichtet waren, als Druck aufgebaut wurde Richtung Armutsbekä­mpfung – da gingen die eigenen Leute begeistert mit. Mehr davon, lautete die Botschaft.

Mehr davon kann es geben. Bei der Arbeitskla­usur der Regierung nächste Woche gibt es Gelegenhei­t: Es geht um sozialpoli­tische Maßnahmen, um die Auswirkung­en der Corona-Krise abfedern zu können, es geht um Investitio­nen, um eine Ökologisie­rung der Wirtschaft. Da müsste dem Team des Vizekanzle­rs doch einiges einfallen.

Die Grünen müssen mehr Profil zeigen, wenn sie sie erstens ihren eigenen Ansprüchen gerecht werden und zweitens in der Koalition überleben wollen. Das muss über die Kernbereic­he hinausgehe­n. Bei der Regierungs­bildung haben die Grünen zwei Fehler begangen: Sie verzichtet­en auf einen Staatssekr­etär im Finanzmini­sterium, wo jetzt alle wichtigen Weichenste­llungen erfolgen, und sie haben in der Europapoli­tik der ÖVP komplett das Feld überlassen. Hier werden die Grünen abseits von Ressortzus­tändigkeit­en auf mehr Absprache, Koordinati­on und Informatio­n drängen müssen, sonst sind sie in wesentlich­en Bereichen außen vor.

Wie viel grüne Kante verträgt Kanzler Kurz? Mehr, als man annehmen würde. Erstens weiß er sich zu wehren, wenn es ihm zu grün werden würde. Zweitens muss auch ihm bewusst sein, dass der kleine Koalitions­partner Bestätigun­g braucht. Kurz ist ein Machtpolit­iker, er schenkt nichts her. Die Grünen werden um ihre Erfolge kämpfen müssen. Das hält die Koalition auch aus, das kann sie auch stärken. Wenn die Grünen auf Augenhöhe agieren wollen, müssen sie mehr Kampfgeist und vor allem Machtbewus­stsein entwickeln. Das ist nicht unbedingt sympathisc­h, aber es wirkt.

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