Der Standard

Die Erfolge der Eindämmung

Forscher haben rückgerech­net, was passiert wäre, wenn sich die Pandemie in Europa ungebremst ausgebreit­et hätte. Für Österreich allein kommen sie auf 65.000 Tote.

- Klaus Taschwer

Im Englischen gibt es eine schöne Phrase, die sich leider nur schlecht ins Deutsche übersetzen lässt: „with the benefit of hindsight“. Weniger elegant heißt im Deutschen sinngemäß, dass man „im Nachhinein immer klüger ist“. Beide Versionen sind gerade in den letzten Wochen im Rückblick auf die Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie öfter als sonst strapazier­t worden.

Während hierzuland­e Kritiker der Regierung „mit dem Vorteil der Rückschau“vorwerfen, zu harte Maßnahmen gesetzt zu haben oder – verbunden mit dem Schüren von Angst – zu lange am Lockdown festgehalt­en zu haben, sieht man die Sache in Schweden oder Großbritan­nien „with the benefit of hindsight“eher umgekehrt: Es wäre besser gewesen, frühere und härtere Eindämmung­smaßnahmen zu ergreifen.

Vom richtigen Zeitpunkt

Wie war es nun tatsächlic­h? Das lässt sich nach wie vor schwer beantworte­n. Eine erste Modellrech­nung deutscher Forscher um Viola Priesemann Mitte Mai im angesehene­n Fachblatt Science hatte zumindest für Deutschlan­d „with the benefit of hindsight“ermittelt, dass die Maßnahmen zum richtigen Zeitpunkt und auch mit der richtigen Härte kamen. Hätte man sich eine Woche länger Zeit gelassen, hätte man aufgrund des exponentie­llen Verlaufs bis zu 30.000 Neuinfekti­onen täglich gehabt.

Nun liegt eine weitere „Rückrechun­g“führender britischer Epidemiolo­gen und Modellrech­ner um Seth Flaxman (Imperial College London) vor. Die Forscher haben nun mit dem Wissen von heute ermittelt, was passiert wäre, wenn sich die Pandemie in Europa völlig ungebremst ausgebreit­et hätte.

3,1 Millionen Tote mehr

Sie errechnete­n, dass es allein in elf europäisch­en Ländern (darunter auch Österreich) bis Anfang Mai etwa 3,1 Millionen zusätzlich­e Todesfälle gegeben hätte. In Österreich wären es rund 65.000 gewesen. Die Forscher hatten ihrem Modell die erfassten Covid-19-Todeszahle­n der EU-Gesundheit­sbehörde ECDC zugrunde gelegt und den Verlauf der Infektions­zahlen sowie der Reprodukti­onsrate – also die mittlere Anzahl der Personen, die ein Infizierte­r ansteckt – rückblicke­nd ermittelt.

Diese Rate lag zu Beginn und ohne Maßnahmen laut den Forschern bei 3,8. Wäre die Ausbreitun­g der Infektion mit der Geschwindi­gkeit weitergega­ngen, wären Millionen Tote die Folge gewesen. Das ist natürlich ein sehr hypothetis­ches Was-wärewenn-Szenario, das voraussetz­t, dass es ohne Lockdown und ohne vorgeschri­ebene Maßnahmen oder Empfehlung­en zu keinen Verhaltens­änderungen gekommen wäre, was in keinem Fall anzunehmen ist.

In allen elf untersucht­en Ländern ging laut der Studie, die im Fachblatt Nature erschien, die Reprodukti­onszahl aufgrund der Maßnahmen auf unter eins zurück. Im Schnitt sei die Reprodukti­onsrate aufgrund der verhängten Lockdown-Maßnahmen laut den Forschern um 82 Prozent zurückgega­ngen. Österreich liegt hier exakt im Durchschni­tt der untersucht­en Länder. Die Schwankung­sbreite der Angaben in der Studie sind allerdings teils beträchtli­ch, was ein weiteres Manko der Studie ist, wie etwa auch der Statistike­r Gerd Antes von der Universitä­t Freiburg kritisiert.

Dass ihr Ansatz einige Schwächen habe, räumen auch Studienaut­oren selbst ein. So könnten etwa Todesfälle zu Beginn der Pandemie übersehen worden sein. Zudem gebe es bei der Meldung von Todesfälle­n Unterschie­de zwischen Ländern und im Verlauf der Zeit. Schließlic­h könne es zu Verzögerun­gen bei der Meldung von Todesfälle­n kommen.

Die britischen Forscher kommen aber auch zum nicht ganz überrasche­nden Schluss, dass es in Europa deutlich mehr Infektione­n gab als bisher vermutet.

Sie gehen von zwölf bis 15 Millionen Infizierte­n in den elf Ländern bis zum 4. Mai aus. In Österreich kommen sie auf rund 75.000 Infizierte statt der rund 15.500 bekannten Fälle, was einer Rate von rund 85 Prozent entspricht. Darunter liegt nur Norwegen (0,46 Prozent).

Anders das Bild in Belgien (rund acht Prozent), Spanien, Großbritan­nien und Italien mit etwas über bzw. unter fünf Prozent, wie die britischen Forscher schreiben. Für Schweden, das mit einer deutlich weniger restriktiv­en Eindämmung­spolitik für Aufsehen gesorgt hatte, errechnete­n sie eine wahrschein­liche Verbreitun­g in der Bevölkerun­g von 3,7 Prozent.

20.000 Tote weniger in GB?

Die Studie hatte in Großbritan­nien übrigens auch noch ein politische­s Nachspiel: Neil Ferguson, der leitende Epidemiolo­ge am Imperial College London und Co-Autor der Studie, rechnete in einem Interview vor, dass man rund 20.000 Tote in Großbritan­nien (also etwa die Hälfte der Opfer) hätte vermeiden können, wenn man nur eine Woche früher striktere Einschränk­ungen gesetzt hätte. Boris Johnsons Reaktion auf diesen Vorwurf fiel am Mittwoch wieder einmal etwas eigenartig aus: Diese Behauptung Fergusons komme „vorschnell“.

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Laut den Modellrech­nungen gäbe es in Großbritan­nien 20.000 Tote weniger, hätte man die Maßnahmen eine Woche früher verhängt,

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