Die Erfolge der Eindämmung
Forscher haben rückgerechnet, was passiert wäre, wenn sich die Pandemie in Europa ungebremst ausgebreitet hätte. Für Österreich allein kommen sie auf 65.000 Tote.
Im Englischen gibt es eine schöne Phrase, die sich leider nur schlecht ins Deutsche übersetzen lässt: „with the benefit of hindsight“. Weniger elegant heißt im Deutschen sinngemäß, dass man „im Nachhinein immer klüger ist“. Beide Versionen sind gerade in den letzten Wochen im Rückblick auf die Maßnahmen gegen die Covid-19-Pandemie öfter als sonst strapaziert worden.
Während hierzulande Kritiker der Regierung „mit dem Vorteil der Rückschau“vorwerfen, zu harte Maßnahmen gesetzt zu haben oder – verbunden mit dem Schüren von Angst – zu lange am Lockdown festgehalten zu haben, sieht man die Sache in Schweden oder Großbritannien „with the benefit of hindsight“eher umgekehrt: Es wäre besser gewesen, frühere und härtere Eindämmungsmaßnahmen zu ergreifen.
Vom richtigen Zeitpunkt
Wie war es nun tatsächlich? Das lässt sich nach wie vor schwer beantworten. Eine erste Modellrechnung deutscher Forscher um Viola Priesemann Mitte Mai im angesehenen Fachblatt Science hatte zumindest für Deutschland „with the benefit of hindsight“ermittelt, dass die Maßnahmen zum richtigen Zeitpunkt und auch mit der richtigen Härte kamen. Hätte man sich eine Woche länger Zeit gelassen, hätte man aufgrund des exponentiellen Verlaufs bis zu 30.000 Neuinfektionen täglich gehabt.
Nun liegt eine weitere „Rückrechung“führender britischer Epidemiologen und Modellrechner um Seth Flaxman (Imperial College London) vor. Die Forscher haben nun mit dem Wissen von heute ermittelt, was passiert wäre, wenn sich die Pandemie in Europa völlig ungebremst ausgebreitet hätte.
3,1 Millionen Tote mehr
Sie errechneten, dass es allein in elf europäischen Ländern (darunter auch Österreich) bis Anfang Mai etwa 3,1 Millionen zusätzliche Todesfälle gegeben hätte. In Österreich wären es rund 65.000 gewesen. Die Forscher hatten ihrem Modell die erfassten Covid-19-Todeszahlen der EU-Gesundheitsbehörde ECDC zugrunde gelegt und den Verlauf der Infektionszahlen sowie der Reproduktionsrate – also die mittlere Anzahl der Personen, die ein Infizierter ansteckt – rückblickend ermittelt.
Diese Rate lag zu Beginn und ohne Maßnahmen laut den Forschern bei 3,8. Wäre die Ausbreitung der Infektion mit der Geschwindigkeit weitergegangen, wären Millionen Tote die Folge gewesen. Das ist natürlich ein sehr hypothetisches Was-wärewenn-Szenario, das voraussetzt, dass es ohne Lockdown und ohne vorgeschriebene Maßnahmen oder Empfehlungen zu keinen Verhaltensänderungen gekommen wäre, was in keinem Fall anzunehmen ist.
In allen elf untersuchten Ländern ging laut der Studie, die im Fachblatt Nature erschien, die Reproduktionszahl aufgrund der Maßnahmen auf unter eins zurück. Im Schnitt sei die Reproduktionsrate aufgrund der verhängten Lockdown-Maßnahmen laut den Forschern um 82 Prozent zurückgegangen. Österreich liegt hier exakt im Durchschnitt der untersuchten Länder. Die Schwankungsbreite der Angaben in der Studie sind allerdings teils beträchtlich, was ein weiteres Manko der Studie ist, wie etwa auch der Statistiker Gerd Antes von der Universität Freiburg kritisiert.
Dass ihr Ansatz einige Schwächen habe, räumen auch Studienautoren selbst ein. So könnten etwa Todesfälle zu Beginn der Pandemie übersehen worden sein. Zudem gebe es bei der Meldung von Todesfällen Unterschiede zwischen Ländern und im Verlauf der Zeit. Schließlich könne es zu Verzögerungen bei der Meldung von Todesfällen kommen.
Die britischen Forscher kommen aber auch zum nicht ganz überraschenden Schluss, dass es in Europa deutlich mehr Infektionen gab als bisher vermutet.
Sie gehen von zwölf bis 15 Millionen Infizierten in den elf Ländern bis zum 4. Mai aus. In Österreich kommen sie auf rund 75.000 Infizierte statt der rund 15.500 bekannten Fälle, was einer Rate von rund 85 Prozent entspricht. Darunter liegt nur Norwegen (0,46 Prozent).
Anders das Bild in Belgien (rund acht Prozent), Spanien, Großbritannien und Italien mit etwas über bzw. unter fünf Prozent, wie die britischen Forscher schreiben. Für Schweden, das mit einer deutlich weniger restriktiven Eindämmungspolitik für Aufsehen gesorgt hatte, errechneten sie eine wahrscheinliche Verbreitung in der Bevölkerung von 3,7 Prozent.
20.000 Tote weniger in GB?
Die Studie hatte in Großbritannien übrigens auch noch ein politisches Nachspiel: Neil Ferguson, der leitende Epidemiologe am Imperial College London und Co-Autor der Studie, rechnete in einem Interview vor, dass man rund 20.000 Tote in Großbritannien (also etwa die Hälfte der Opfer) hätte vermeiden können, wenn man nur eine Woche früher striktere Einschränkungen gesetzt hätte. Boris Johnsons Reaktion auf diesen Vorwurf fiel am Mittwoch wieder einmal etwas eigenartig aus: Diese Behauptung Fergusons komme „vorschnell“.