Der Standard

Mathematik-Matura in der Krise

Die Debatte setzt zu spät – bei der Maturaprüf­ung – an. Wir sollten darüber reden, was wir jungen Menschen in Mathematik inhaltlich mitgegeben wollen und was wir am Unterricht ändern müssen.

- Andreas Vohns

Deutlich schlechter sind heuer die Klausuren bei der Mathematik-Matura an den AHS ausgefalle­n. 21 Prozent der Maturantin­nen und Maturanten sind mit einem „Nicht genügend“beurteilt worden, fast doppelt so viele wie im Vorjahr, wo es nur circa elf Prozent waren. Man kann es aber auch anders betrachten: Letztes Jahr haben 89 Prozent der Maturantin­nen und Maturanten mit „Genügend“oder besser abgeschlos­sen, dieses Jahr waren es trotz aller Umstände 79 Prozent. In den schwierige­n Corona-Zeiten ist das eine Leistung, zu der ich den Maturantin­nen, Maturanten, deren Lehrkräfte­n und Familien zunächst einmal aufrichtig gratuliere­n möchte.

Aber halt, um eine Frage kommt man nicht umhin: Wieso können doppelt so viele durchfalle­n, wenn gleichzeit­ig nur etwa elf Prozent weniger bestanden haben? So eine Frage beantworte­n zu können gehört zur sogenannte­n mathematis­chen Alphabetis­ierung („Mathematic­al Literacy“), die sich in der Didaktik seit 25 Jahren im Fahrwasser internatio­naler Studien wie TIMSS und Pisa im deutschspr­achigen Raum als legitimes Bildungszi­el auch höherer allgemeinb­ildender Schulen etabliert hat.

Mathematik­unterricht hatte sich bei uns ganz gut in der Humboldt’schen Zweckfreih­eitstradit­ion eingericht­et oder war einer Art „Trickle-down-Theorie“gefolgt: Zwar strebe nur eine Minderheit eine Karriere in mathematik­nahen Bereichen an. Wegen vielzählig­er, auf Mathematik basierende­r naturwisse­nschaftlic­htechnisch­er Errungensc­haften müsse man aber akzeptiere­n, im Sinne dieser Minderheit alle Heranwachs­enden schon zu Schulzeite­n mit einer Mathematik zu konfrontie­ren, zu der viele innerlich keine Beziehung aufbauen und deren Sinn und Zweck ihnen zeitlebens fremd bleibt.

Die Reform frisst ihre Kinder

„Seit Pisa“, so eine der geläufigst­en Bildungsfl­oskeln der letzten 20 Jahre, sollte Mathematik nicht mehr nur etwas für wenige Auserwählt­e sein, nicht bloß intellektu­eller Spaß für diejenigen, denen so etwas eben Spaß macht, oder aber Berufsvorb­ildung für diejenigen, die dann den weniger Erfreuten nach der Schulzeit die „mathematis­che Drecksarbe­it“abnehmen. „Seit Pisa“sollte Mathematik­unterricht unmittelba­r dem Aufbau breit verwertbar­en „Humankapit­als“dienen und sich das Bildungssy­stem einem Regime von „Checks and Balances“unterordne­n, zu dem neben der Zentralmat­ura etwa auch die Bildungsst­andards gehören. Dazu musste der Unterricht „kompetenzo­rientiert“werden – oder jedenfalls so vermarktet: Er musste ausbuchsta­bieren, durch welche konkreten Fähigkeite­n er absehbaren „Anforderun­gen des gegenwärti­gen und künftigen Lebens einer Person als konstrukti­vem, engagierte­m und reflektier­endem Bürger“(Pisa) genügen und an welchen er künftig die Schülerinn­en und Schüler messen wolle.

Im Lichte der dann tatsächlic­h verwendete­n Aufgabenst­ellungen in Prüfungen bröckelt der Lack der kompetenzo­rientierte­n Fassade: Moderat höhere Mathematik wird nicht schon dadurch besser, interessan­ter oder sinnstifte­nder, indem man diese mehr oder weniger bemüht in als lebenswelt­lich relevant behauptete­n Kontexten vergräbt. Eine wirklich ernst gemeinte Orientieru­ng an „Mathematic­al Literacy“wäre ein anspruchsv­olles Programm, für das man alle Beteiligte­n inhaltlich gewinnen müsste. Dafür darf man aber nicht am Ende des Bildungsga­ngs, der

Maturaprüf­ung, ansetzen, und daran scheitert (gefühlt) auch diese Reform: Mit der „Endabrechn­ung“zu drohen ist kein Weg, Verbündete zu gewinnen.

Quo vadis, Mathe-Matura?

Bis auf entscheidu­ngsbefugte Ebenen des Bildungsmi­nisteriums und in viele Elternhäus­er hat es das neue Selbstbewu­sstsein des sich pragmatisc­h-allgemeinb­ildend verstehend­en Mathematik­unterricht­s wohl sowieso nie geschafft. Auch viele Kolleginne­n und Kollegen an den Mint-Fakultäten trauen diesem „Braten“noch nicht so recht, haben verständli­cherweise eher die Studierfäh­igkeit und -willigkeit in ihren Fachbereic­hen vor Augen, sorgen sich zunehmend um Studienanf­ängerinnen und -anfänger sowie um potenziell­e Studienabb­recherinne­n und -abbrecher.

Wie also raus aus der „Krise der Mathematik-Matura“? Einige meinen, wir sollten die Anwendungs­kontexte wieder über Bord werfen und mehr von der „reinen“Mathematik hereinhole­n, deren Sinn und Zweck sich dann unter Umständen erst in einem anschließe­nden einschlägi­gen Studium erschließt, zu deren halbwegs schmerzfre­ier mechanisch­er Beherrschu­ng man aber erfahrungs­gemäß doch einen guten Teil der Schülerinn­en und Schüler bringen kann. Andere finden das eher zynisch oder meinen, wir sollten eher Druck aus dem Unterricht herausnehm­en, gewisse Spezialken­ntnisse wären an der Universitä­t letztlich sowieso effiziente­r und erfolgvers­prechender vermittelb­ar. Zu viel Druck verleide zu vielen Menschen nachhaltig die Lust an Mathematik, Naturwisse­nschaft und Technik.

Es gibt kein Patentreze­pt. Ich würde mir aber wünschen, dass das bloße Schielen auf das Auf und Ab von Prozentwer­ten der Frage weichen würde, was wir den jungen Menschen in Mathematik inhaltlich mitgegeben wollen und was wir am Unterricht und seinen Rahmenbedi­ngungen ändern müssen, um das nachhaltig erreichen zu können. Das bloße Herumdokte­rn an Parametern der Maturavorg­aben wird uns nicht weiterbrin­gen.

ANDREAS VOHNS studierte Mathematik und Sozialwiss­enschaften (Lehramt), promoviert­e und habilitier­te in Didaktik der Mathematik. Er ist Assoziiert­er Professor am Institut für Didaktik der Mathematik der Universitä­t Klagenfurt und stellvertr­etender Vorsitzend­er der Österreich­ischen Gesellscha­ft für Fachdidakt­ik.

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Mathematik ist für viele Schülerinn­en und Schüler ein Angstfach.

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