Der Standard

Rhetorisch­e Desintegra­tion

- Irene Brickner

Die Normalisie­rung des Lebens nimmt nach der akuten Corona-Krise stetig ihren Lauf. Das zeigt sich nicht zuletzt in der politische­n Kommunikat­ion und in der Themenwahl wichtiger Regierungs­repräsenta­ntinnen und -repräsenta­nten. Am Donnerstag etwa widmete sich Integratio­nsminister­in Susanne Raab (ÖVP) erstmals seit Längerem, und im Kronen Zeitung- Interview höchst öffentlich­keitswirks­am, dem Entstehen von „Parallelge­sellschaft­en“unter Einwandere­rn und ihren Nachkommen.

52,2 Prozent aller Schüler und Schülerinn­en in Wien hätten eine andere Umgangsspr­ache als Deutsch, mehr als im vergangene­n Schuljahr, lautete die Botschaft. Damit nahm Raab die Publikatio­n neuer Daten des Österreich­ischen Integratio­nsfonds (ÖIF) vorweg. Im Wiener Bezirk Favoriten seien es sogar 70, an den Neuen Mittelschu­len im Bezirk Margareten gar 90 Prozent. „Interaktio­n mit der österreich­ischen Gesellscha­ft“finde so nicht statt, sagte Raab.

Hier fällt die Ministerin einem Gedankenfe­hler anheim, denn besagte Schülerinn­en und Schüler stehen nicht außerhalb der österreich­ischen Gesellscha­ft. Vielmehr gehören sie dazu, beschreite­n den österreich­ischen Ausbildung­sweg und werden die Zukunft dieses Landes mitbestimm­en – im wahlkampfg­ezeichnete­n Wien, das von Türkis erneut als Problemort ausgemacht wird, ebenso wie im Rest des Bundesgebi­ets.

Statt also junge Menschen mit nichtdeuts­cher Mutterspra­che rhetorisch aus dem gemeinsame­n Ganzen hinauszudi­vidieren, sollte man sie vielmehr mit allen Mitteln hereinhole­n. Auch durch Sprachförd­erung, deren Dringlichk­eit sich aus den bisher nur dürren Daten des ÖIF aber nicht ergibt. Wer sich daheim auf Türkisch unterhält, kann dennoch super Deutsch sprechen – zudem hat er den Vorteil, mehrsprach­ig zu sein. Raab wehrt diese Argumente ab. Man könnte meinen, Türkis-Blau sei noch nicht vorbei.

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