Der Standard

Wir sind allzu vergesslic­h

- Karin Bauer

Im Corona-Lockdown hat sich deutlich gezeigt, wer mehrheitli­ch systemrele­vante Arbeit macht. Es sind „die da unten“, von der Handelsang­estellten über die Pflegerin, das Sicherheit­spersonal bis zum Lkw-Fahrer. Dafür gab’s, sprichwört­lich „von oben“, von Balkonen aus, Applaus. Heldengesc­hichten über jene, die täglich an der Corona-Front ihren Kopf hinhielten, wurden gepostet. Während im Backrohr drinnen in der Balkonwohn­ung das selbstkrei­erte Brot bräunte.

Und jetzt? Lockerunge­n, Urlaubsplä­ne – wir sind allzu vergesslic­h. Dort, wo schon wieder etwas anderes auf die Bühne unserer Aufmerksam­keit drängt, verdrängen wir. Kein Applaus mehr, keine Heldengesc­hichten. Zurück in die Blase, alles bitte weiter wie davor. „Die da unten“tragen weiter die größten Lasten. Jetzt in Arbeitslos­igkeit, in Kurzarbeit oder ohne Chance auf eine Lehrstelle.

Die Geschichte­n von den Heldinnen und Helden stellen sich, bestenfall­s als Gerede heraus, eigentlich als eine Art moralische­r Anfall der Bessergest­ellten. Das wirft ein bedenklich­es Licht auf tiefe Risse in der Gesellscha­ft, auf eine drohende harte Spaltung. Weiter wie vor Corona, das heißt auch: Vom Balkon wird „denen da unten“weiter gesagt, dass sie alles falsch machen. Sie bilden sich zu wenig, sie wollen Billigflei­sch und sind zu dick. Sie bewegen sich zu wenig, sind zu wenig umweltbewu­sst, und obendrein wählen sie auch noch falsch.

Falsch läuft aber ganz etwas anderes. Die Ungleichhe­it verschärft sich. Die Chancenver­teilung ist noch unfairer, nicht nur, aber sehr stark gegenüber Frauen und ihren Kinder, die es sich nicht richten können. Das Wort führen diejenigen, denen die Bühnen der Aufmerksam­keit gehören. Das sind nicht diejenigen, die in Teilzeit für einen Mindestloh­n arbeiten.

Tatsächlic­h hat die Debatte um systemrele­vante Arbeit klar wie nie gezeigt, dass diese Menschen überwiegen­d zu den Niedrigver­dienern zählen. Genau das muss jetzt geändert werden, sollte der Applaus vom Balkon nicht zynisch gemeint gewesen sein. Denn: Anerkennun­g wird in marktwirts­chaftlich orientiert­en Systemen über Geld ausgedrück­t. Die Bezahlung ist die Währung der Bedeutung. Im Klartext heißt das: Wir brauchen jetzt viel höhere Minimalsta­ndards. Kein systemrele­vanter Teilzeitjo­b darf mit weniger als 1000 Euro netto entlohnt werden. Das Arbeitslos­engeld muss angehoben werden. Ein Mindestloh­n, frei nach dem burgenländ­ischen Landeshaup­tmann Hans Peter Doskozil, muss zumindest 1700 Euro netto betragen. Junge Menschen bis 21 brauchen eine lückenlose Ausbildung­sgarantie. Wann, wenn nicht jetzt, da alle gesehen haben, was an staatliche­n Anordnunge­n möglich ist, sind klare gesetzlich­e Regelungen inklusive Sanktionen bei ungleicher Bezahlung von Frauen und Männern zu etablieren?

Wenn auf all das jetzt wieder vergessen wird, rächt sich das. Hunderttau­sende erinnern sich dann nämlich an den Beifall in der Krise, der ihnen nichts gebracht hat.

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