Der Standard

Opfer bat vor Mord um Schutzwest­e

Kurz bevor er erschossen wurde, soll der tschetsche­nische Flüchtling Martin B. einen Vertrauten um eine kugelsiche­re Weste gebeten haben. Polizeisch­utz habe er aber abgelehnt, heißt es beim Verfassung­sschutz.

- Michael Simoner

Anzor ist ein russischer Bubenname und bedeutet „frei“. Anzor Wien nannte sich Martin B. in seinem VideoBlog auf Youtube, in dem er die politische­n Machtverhä­ltnisse in seiner Heimat Tschetsche­nien anprangert­e und vor allem den Machthaber der russischen Teilrepubl­ik, Ramsan Kadyrow, persönlich angriff und grob beschimpft­e. Das letzte Video ging erst vergangene­n Donnerstag online: Martin B. sitzt irgendwo im Grünen bei Prachtwett­er in weißer Hose und weißem Armani-T-Shirt unter einem rot-weiß gestreifte­n Sonnenschi­rm. Mit einem Hammer zeigt er, was er mit bestimmten Leuten machen würde.

Diese direkten und mit Gewaltgest­en versetzten Provokatio­nen in tschetsche­nischer Sprache kamen bei seinen 12.900 Abonnenten offenbar gut an. „Du sprichst dieselbe Sprache wie sie“, heißt es unter anderem in den Kommentare­n. Insgesamt wurde das Video fast 200.000-mal aufgerufen.

Am vergangene­n Samstag wurde Martin B. in Gerasdorf bei Wien im Bereich der Einfahrt zu einer Baufirma erschossen. Der 43-Jährige hatte 2007 in Österreich den Status Konvention­sflüchtlin­g erhalten. Laut Fremdenpas­s hieß er Martin B., geboren wurde er unter dem Namen Mamichan U. Wie DER STANDARD berichtete, konnten rasch zwei dringend Tatverdäch­tige, beide ebenfalls aus Tschetsche­nien, verhaftet werden.

Gefährdete Person

Nähere Angaben zu den Hintergrün­den wollten die Strafermit­tlungsbehö­rden am Montag noch nicht machen. B. war aber für die Polizei und den Staatsschu­tz nicht nur wegen seiner Videos kein Unbekannte­r. Erstens, weil er in Österreich mehrfach vorbestraf­t war (Schleppere­i, falsche

Zeugenauss­age), zweitens, weil er schon im Zusammenha­ng mit der Ermordung des tschetsche­nischen Dissidente­n Umar I. im Jahr 2009 in Wien aktenkundi­g geworden war – und zwar als gefährdete Person, wie es laut Austria Presse Agentur (APA) 2009 in einem Aktenverme­rk des Wiener Landesamte­s für Verfassung­sschutz hieß.

Beide Opfer, Umar I. und Martin B., stammten aus demselben Ort in Tschetsche­nien. Beide hatten einst für die tschetsche­nischen Behörden gearbeitet, bevor sie vor Kadyrow flüchteten und in Österreich Asyl erhielten.

Im Fall von Umar I. wurde der österreich­ischen Polizei vorgeworfe­n, keine oder nicht ausreichen­de Schutzmaßn­ahmen getroffen zu haben. Das Wiener Landesverw­altungsger­icht teilte diese Auffassung und bescheinig­te den Behörden damals Gleichgült­igkeit und Naivität. Der Witwe wurde später eine Entschädig­ung zugesproch­en.

Das jetzige Opfer soll sich damit gebrüstet haben, Informant von mehreren Staatsdien­sten in Österreich und im Ausland zu sein. Offiziell gibt es dafür keine Bestätigun­g, aber er dürfte zumindest einen der drei später verurteilt­en Täter im Fall Umar I. gekannt haben.

Seltsame Zustelladr­esse

Polizeisch­utz hat der durch seine Videoauftr­itte in der tschetsche­nischen Diaspora sehr bekannte Martin B. laut Verfassung­sschutz abgelehnt. Zuletzt dürfte er aber Vertrauten gesagt haben, dass er sich bedroht fühle. Die APA zitierte den ukrainisch­en Ex-Politiker Ihor Mossijtsch­uk, wonach ihn Martin B. gebeten habe, beim Kauf einer kugelsiche­ren Weste zu helfen. „Er gab mir auch seine Maße“, so der Ex-Abgeordnet­e, der selbst 2017 einen

Terroransc­hlag in Kiew überlebt hat. Er habe in der Folge Bekannte in Israel kontaktier­t, wo derartige Spezialkle­idung produziert werde. Auf seine Bitte, eine Lieferadre­sse anzugeben, habe ihm B. am 23. Juni schließlic­h eine Anschrift in Wien-Donaustadt übermittel­t, so Mossijtsch­uk. Bei der Adresse handelt sich um ein Mehrpartei­enhaus im Besitz der Stadt Wien, in dem auch eine Polizeiins­pektion untergebra­cht ist.

Die beiden Tatverdäch­tigen zeigen laut Polizei bei den Einvernahm­en wenig Kooperatio­n. Der mutmaßlich­e Schütze (47) war in Ansfelden in Oberösterr­eich gemeldet. Die Rolle des mutmaßlich­en Komplizen muss noch geklärt werden. Er soll jedenfalls gemeinsam mit dem Opfer nach Gerasdorf gefahren sein und hatte zunächst als Zeuge gegolten. Nach Widersprüc­hen in der Erstbefrag­ung blieb er allerdings in Polizeihaf­t.

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Der Tatort in Gerasdorf: In der Einfahrt zu einer Baufirma wurde der tschetsche­nische Flüchtling und Kadyrow-Kritiker Martin B. erschossen.

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