Dieser Schrei wird nicht der letzte sein
Akemi Takeya und Veza Fernandez setzen in ihren Kursen auf die Kräfte der Stimme
Zwei Frauen Nase an Nase, ihre Münder sind zum Schreien weit geöffnet. So sieht das Promofoto für Veza Fernandez’ Workshop Messy Polyphonies zur individuellen und kollektiven Soundproduktion aus, einer von zwei Schrei-Klassen, die jetzt bei Public Moves angeboten werden.
Das effektvolle Bild wird sich praktisch nicht umsetzen lassen, und der ein Durcheinander suggerierende Titel will nicht so recht in die von Auflagen und Disziplin geprägte Gegenwart passen.
Schamlose Sounds
Im Näheverbot liegt die größte Herausforderung für die freischaffende Choreografin und Performerin, die bereits 2018 als Artist in Residence bei Impulstanz zu Gast war: „Wenn man gemeinsam tönt, will man sich auch annähern, aber wir müssen im Abstand zueinander bleiben“, so Fernandez.
Sie habe deshalb besondere Übungen entwickelt, die es ermöglichen, gemeinsam zu praktizieren, ohne sich dabei (ungewollt) anschreien zu müssen. Eine gewisse Technik wird benötigt, um die Stimmbänder nicht zu verletzen. Es handle sich auch weniger um Schreie, sondern eher um „laute, schamlose Sounds“.
In Fernandez’ Klasse geht es darum, mit der eigenen Stimme in einer Gruppe zu experimentieren. Das betrifft einerseits den Ort, an dem die Stimme im Körper produziert wird – was zunächst ungewohnt erscheinen mag: etwa hinter den Zähnen oder der Nase. Andererseits soll sich auch der ganze Körper im Tanz zu den produzierten Lauten bewegen können.
„Ich arbeite mit einer körperlichen Stimme, die präsent genug ist, um damit zu gestalten“, so Fernandez.
In ihrem Workshop will sie die verbindende Kraft der Stimme erforschen. Diese könne laut, schrill und „unzensiert“sein, könne brechen, ohne dabei zu schmerzen, oder auch auf konventionelle Weise „schlecht“klingen. „Es ist eine Stimme, die aus verschiedenen Teilen des Körpers kommt, sie richtet sich eher nach ihrer Körperlichkeit als nach Musikalität. Fleisch und Knochen schreien!“
Durch die Unterstützung in der Gruppe bildet sich eine gemeinsame Soundkulisse – die Lautstärke, der Schrei. Auch für Fernandez ist dieser Workshop ein Lernprozess. Es gilt herauszufinden, wie viel Nähe trotz Distanz im Zusammenklang von Stimme und Tanz entstehen kann.
Dass das Schreien erst gelernt sein will, weiß auch Akemi Takeya. Im Gegensatz zu Fernandez ist sie Dauergast des Festivals.
Schrei X8 – The Vocalic Body heißt ihre Klasse, in der durch Erwecken der eigenen Natur und Erlernen einer speziellen Atemtechnik das Schreien möglich gemacht werden soll.
Takeya nutzt dafür die fünf Vokale der deutschen Sprache, um Stimme und Körper simultan zu bewegen und diese Interaktion zu vertiefen. Der Titel Schrei X8 ist eine Andeutung auf die Möbiusschleife und meint damit die unendlichen Möglichkeiten einer Komposition, die sich aus den unterschiedlichen Stimmen, Atemrhythmen oder emotionalen Stadien der Teilnehmer ergeben.
Das scheint ein Workshop speziell für diese Zeit zu sein. Takeya spricht von Katharsis, von aufgestauten Gefühlen – in einem selbst oder in einer Gesellschaft –, die nach Freisetzung streben.
Balsam für die Seele
Doch die Performancekünstlerin hat diese Klasse nicht aufgrund von Corona geplant.
Es sei ein prinzipielles Bedürfnis, zur Natur zurückzukehren und es Tieren gleichzutun, zu singen, zu bellen, zu heulen und zu brüllen. Ihr Kurs sei Balsam für die Seele, so Takeya. Ein Gelegenheit der Befreiung für all jene, die schon immer den Wunsch hatten, einfach draufloszuschreien. (kst)