„Diese Choreografie ist eine Bombe“
Im Herbst lässt Impulstanz Chris Haring und seine Company Liquid Loft deren 15-Jahr-Jubiläum feiern: im Wiener Odeon mit der Uraufführung eines neuen Stücks, „Blue Moon you say...“, mit dem „Posing Project B“, das Haring einen Goldenen Löwen gebracht hat, und einer Buchpräsentation.
Ob etwas ungewöhnlich aussehe an seinem Gesicht, fragt Chris Haring am Beginn des Bildtelefon-Interviews mit dem STANDARD. Ja, die rechte Gesichtshälfte wirkt geschwollen. Etwas, das über Nacht gekommen ist. Ganz anders als Covid-19, das sich ja erst am Horizont abgezeichnet hat und langsam anwuchs, bis dann Mitte März der Lockdown kam und die Pläne auch von Harings Company Liquid Loft fortspülte.
Diesen Sommer bei Impulstanz hätte Liquid Loft aus Anlass ihres 15. „Geburtstags“eine Uraufführung zeigen sollen, weiters die Wiederaufnahme eines Stücks, für das Haring 2007 der Goldene Löwe der Biennale di Venezia verliehen wurde: Posing Project B – The Art of Seduction. Drittens wollte der aus dem burgenländischen Schattendorf stammende Choreograf im Zusammenhang mit der Ausstellung Andy Warhol Exhibits im Mumok sein 2016 entstandenes Stück Candy’s Camouflage zeigen, und außerdem ist ein Buch über die Company so gut wie fertig.
Eine Polyphonie
Am Beispiel Chris Haring kann beobachtet werden, wie einem manchmal die Felle auch zuschwimmen können. Im Vorjahr zeigte Liquid Loft bei Impulstanz in einer ganzen Etage des LeopoldMuseums das choreografische Projekt Stand-Alones (Polyphony).
Jede Tänzerin und jeder Tänzer hatte eine individuelle Performance, „füllte mit einem Lautsprecher autonom seinen Raum“, so Haring, „und fügte sich zugleich in eine Polyphonie ein. Der Stand-Alone schafft sich seine eigene Welt, die Tänzer gehen als Künstler auf ihre eigene Bühne.“
Die Arbeit war ein künstlerischer Erfolg, aber „dann hat uns Covid-19 eingeholt, und es war beinahe peinlich, dass wir schon mit Kommunikationsdrang und zugleich -verlust gearbeitet haben. Das Alleinsein war aber immer Thema in unseren Stücken.“
Das Peinlichberührtsein des Choreografen entspricht dem Zeitgeist: Künstler sollen nicht „prophetisch“oder „genial“genannt werden, der Begriff „Avantgarde“ist verpönt, „experimentell“gilt als abgenutzt, und „explorativ“klingt entlegen.
Tanz mit Elvis
Die Kunst wird gerade in kleine Karos einsortiert. Bedauerlich, denn die isolierten Figuren der Stand-Alones waren genial prophetische Experimente. Diesen Sommer sind sie beim La-StradaFestival in Graz wiederzusehen.
Auch Wien schaut auf Liquid Loft: Im Oktober bringt Impulstanz die Uraufführung des neuen Stücks ans Odeontheater. Haring meint mit Blick auf die jüngsten Entwicklungen der Pandemie: „Wir hoffen, dass der Termin auch halten wird.“
Blue Moon you say…, nach dem Song in der Interpretation von Elvis Presley, bezieht sich folgerichtig auf die Stand-Alones. Schon die erste Textzeile nach den Worten „Blue Moon“stellt die Position der vom Sänger imaginierten Figur klar: „You saw me standing alone.“Haring: „Das war die Weiterführung der Charaktere bei Stand-Alones (Polyphony). Interessant für uns ist jetzt, dass dieses Projekt so viel mit Distanz zu tun hat.“
Die Geschichte von Blue Moon (geschrieben 1933 von Richard Rodgers and Lorenz Hart) geht zurück bis zum Jahr 1934, als Shirley Ross den Song – unter dem Titel It’s Just That Kind of Play in dem Film Manhattan Melodrama – sang.
Bevor Presley das Lied 1954 aufnahm, schrieb es zwei Jahrzehnte lang Musikgeschichte.
Sehr stark inspiriert sei Blue Moon you say…, verrät Haring, von der Nouvelle Vague. Vor allem von Alain Resnais’ L’Année dernière à Marienbad, mit dem der Regisseur 1961 den Goldenen Löwen der Biennale von Venedig gewonnen hat.
Blue Moon you say... interpretiert den Film nicht, aber, so Haring, „die Choreografie der beiden Hauptfiguren ist eine Bombe“. „Blue Moon you say…“, Odeon, 6., 8. + 9. 10., 20.00; Buchpräsentation 15 Jahre Liquid Loft, Odeon, 10. 10., 18.30; „Posing Project B“, Odeon, 13., 15. + 16. 10., 20.00